Mittwoch, 17. Juni 2009

Mein Urgroßvater aus dem galizischen Stetl

Moses Hersch ist ein gottesfürchtiger Mann, aber nicht fanatisch. Er spricht die Gebete und geht in die Synagoge oder ins Bethaus, hält den Sabbat und die Feiertage heilig, aber trägt unter der Woche keinen Kaftan und hat keine Pejes. An normalen Tagen trägt er einen kurzen Rock wie ein Deutsch, eine Weste mit Uhrkette, lange Hosen und Stiefel. Er ist kein Anhänger eines Wunderrabbis, aber er spendet für die Armen, für die Abbrändler, für die Waisen und für die Volksküche. Er liest den Magid, eine fortschrittliche Zeitung auf Hebräisch und er ist Mitglied des Vereins für Fortschritt und Bildung, aber auch des jüdischen Armen- und Bedürftigenversorgungsvereins. Er spottet über den Rebbe von Belz, den größten Wunderrabbi Galiziens, und höhnt, dass der Rebbe von Rzerzow größer ist als der Rebbe von Kiew. Er liest das jüdische Volksblatt von Borysław, eine Zeitung in Jiddisch, die jeden Freitag erscheint. Und am Sabbat liest er in der Thora und im Talmud. Er ist zwar nicht sehr gebildet, aber in einfacheren Teilen des Talmuds findet er sich zurecht. Es genügt an Gott zu glauben und Jude zu sein.
Moses Hersch wurde 1842 in Sosnica geboren. Die Familie war arm, bitter arm. Sein Vater war Tischler, die Mutter handelte mit Salz, Brot, Mehl, Zwiebeln, Heringen, Kerzen, Messern, Besen und Branntwein. Aber alle handeln, und das Geschäft brachte nur wenige Kreuzer am Tag. Vater, Mutter und vier Kinder wohnten in einer Hütte mit Lehmboden in einem einzigen Raum. Unter der Woche hatten sie kaum genug zu essen. Aber am Sabbat gab es Challah und gefillte Fisch und manchmal ein Huhn. Als Moses Hersch zwanzig war, heiratete er und zog nach Sambor zu den Eltern seiner Frau. Er hörte, daß man in Borysław reich werden kann und beschloß, dort sein Glück zu versuchen. Damals hatte es in dem kleinen Dorf mit den paar hundert Einwohnern noch fast keine Juden gegeben. Ein paar Jahre später wohnten schon siebentausend Juden in Borysław. Esther, Moses Herschs Frau, hatte eine kleine Mitgift in die Ehe gebracht. Davon kaufte er im Jahre 1866 von einem ruthenischen Bauern zusammen mit anderen um einen Spottpreis ein Stück Grund. So erwarb er einige Anteile an Gruben. Und kam zu Geld. Damals war es noch Erdöl, das aus den Gruben förmlich heraus brach. Die Bauern wußten nicht, wie wertvoll ihre Felder waren. Borysław – ein kleines, verschlafenes, ruthenisches Dorf am Fuße der Karpaten, im Osten Galiziens, des ärmsten Kronlands der Monarchie. Bis die Goldgräber kamen. Juden, die über Nacht reich wurden. Über dem ganzen Dorf hängt der Geruch von Erdöl. Die Straßen sind schlammig, ölgetränkt, ein gelber morastartiger Kot. Schmale Bretterstege dienen als Fußweg. Die Häuser sind aus Holz, nebeneinander oder auseinander gestreut auf einer kleinen Anhöhe. Auf den Straßen tummeln sich Wasserträger, Lepträger, jüdische und ruthenische Arbeiter in schmierigen, zerschlissenen Gewändern und mit Öl beschmierten Gesichtern, die Ruthenen meist barfuß, die Juden mit Pejes und im Kaftan, Händlerinnen, die Zwiebeln und Heringe verkaufen, Juden, die ihre Waren feilbieten, Schnitt- Ton- und Eßwaren, Kinder, die schwere Säcke schleppen, Luftmenschen, Menschen in Lumpen, die keine Arbeit haben und Betrunkene. Stellenweise versinkt man knietief im Kot. Irgendwo hockt jemand bei einem Zaun und verrichtet sein Geschäft, weil es keine Aborte gibt.
Mit Kornhaber, Mendelson und Gottesmann hat Moses Hersch eine Firma gegründet. Ein Erdwachs-Export-Geschäft. Sie liefern nach Lemberg, Prag und Wien. Aber auch an die Paraffinfabrik in Drohobycz. Moses Hersch ist ein verträglicher Mensch und kommt mit seinen Kompagnions gut aus. Er selbst ist umsichtig, niemals leichtsinnig und rechnet sorgfältig. Wer im Leben nicht rechnet, stirbt ohne Gnade. Die Erdölraffinerie in Hubicze ist nicht groß. Sie gehört Moses Hersch allein. Vierzig Arbeiter sind beschäftigt, Juden und Ruthenen, Männer und Frauen. Die Juden arbeiten sonntags, die Ruthenen samstags. Sie arbeiten 12 Stunden. Moses Hersch schlägt nie einen Arbeiter. Die Aufseher machen das manchmal. Zu Peissach spendet Moses Hersch jedem Arbeiter einen Gulden. Er geht jeden Tag in die Fabrik, obwohl er einen Direktor und einen Buchhalter hat. Er kontrolliert regelmäßig die Bestellungen und Quittungen. Das Petroleum wird nach Lemberg und Wien geliefert.
Anfangs war er nur unter der Woche in Borysław und übernachtete in der Schenke, Donnerstag abend oder Freitag vormittag fuhr er nach Sambor, um mit der Familie den Sabbat zu feiern. Esther gebar ein Mädchen, das bei der Geburt starb. Ein Jahr darauf einen Sohn, Sische. Bald war Moses Hersch wohlhabend und kaufte ein Haus in Borysław. Ein Haus mit fünf Zimmern und einer Veranda auf der Ulica Panska. Ein Zimmer dient als Geschäft. Drei Jahre später kam Osias zur Welt, zwei Jahre später Jakob, 1875 Awrum und ein Jahr danach Pinkas. Moses Hersch ist klein, hat tief liegende Augen und einen üppigen Bart mit weißen Fäden darin. Und einen würdevoll energischen Gesichtsausdruck. Esther ist groß, ein Stück größer als ihr Mann, stark und hat ein trauriges Gesicht. Sie hat einen Scheitl und trägt ein großes kariertes Tuch, wenn sie ausgeht. Am Sabbat liest sie in ihrer jiddischen Bibel und dem Gebetbuch, das ein silbernes Schloß hat. Esther arbeitet im Geschäft. Dreimal in der Woche kommt ein Student aus Drohobycz, um Moses Hersch und Esther Deutschunterricht zu geben. Ein Gymnasiast der siebenten Klasse. Auch die Kinder bekommen Deutschunterricht. Moses Hersch kann zwar noch nicht perfekt Deutsch, hat aber eine Schillerausgabe gekauft, in der er abends im Lehnstuhl sitzend mit einem Glas Bier, Kichererbsen und einer Zigarre liest.
Moses Hersch hat mit dem Erdöl und Erdwachs ein kleines Vermögen erworben. Er kauft eine Bierbrauerei in Drohobycz, wo er sich später zur Ruhe setzen will. Es ist nur eineinhalb Meilen von Borysław entfernt und es stinkt nicht nach Erdöl. Er übernimmt vierzehn Arbeiter, ruthenische Bauernburschen, drei gelernte Arbeiter und den Braumeister, der für den Ablauf der Arbeit verantwortlich ist, Gerste, Hopfen und Hefe einkauft, sich um die Maschinen kümmert und ein Auge auf die Ochsen, Pferde und Wagen hat. Es wird sechzehn Stunden gearbeitet, um vier Uhr früh wird begonnen. Nach fünf Stunden gibt es eine Pause. Jeden Tag gibt es eineinhalb Liter Freibier und eine Jause als Teil des Lohns. Moses Hersch fährt fast nie nach Drohobycz in die Brauerei. Er versteht auch gar nichts von der Bierbrauerei. Chaim Alter, der junge Gottesmann, wohnt schon in Drohobycz bei seinem Schwiegervater. Er schaut manchmal in die Brauerei, ob alles in Ordnung ist.
Moses Hersch und Esther haben sich wie alle Juden erst knapp vor der Hochzeit kennen gelernt. Sie vertragen sich recht und schlecht. Öfter einmal gibt es Streit. Meistens setzt sich Moses Hersch durch. Aber er ist zufrieden, weil Esther fruchtbar ist und lauter Söhne gebiert. Moses Hersch ist fortschrittlich. Und Esther geht das manchmal zu weit. Dann gibt es Streit. Esther hat durchgesetzt, dass die Kinder in den Cheder gehen. Moses Hersch ist kein Freund des Cheder. Das ist etwas für die Orthodoxen und die Chassidim. Sie lernen nur Chumesch und Mischnah und Gemara. Und sie lernen es auf törichte Weise mit Schlägen und Drill. Damit kann man nichts werden im Leben. Die Kinder sollen etwas Ordentliches lernen und studieren. Sie sollen Ärzte werden. Oder Advokaten. Sie sollen Polnisch lesen und schreiben lernen, weil es in Borysław nur eine polnische Volksschule gibt. Aber besser Polnisch als den ganzen Tag über dem Talmud zu sitzen. Und sie sollen Rechnen und Deutsch lernen. Und wenn sie nicht Ärzte werden, dann sollen sie Kaufleute werden. Aber sie sollen studieren. Als Arzt oder Advokat kann man als Jude überall arbeiten. Ganz aber dürfen sie die heiligen Bücher nicht vergessen. Jeden Tag kommt ein privater Religionslehrer eine Stunde. Weil es in der polnischen Volksschule keinen jüdischen Religionsunterricht gibt. Er ist kein Chassid, aber orthodox, und duldet die Fortschrittlichen. Nur nicht mehr in den fanatisierten Cheder. Die Kinder tragen auch keine Jarmulke mehr. Auch gehen sie samstags in die Schule, nur schreiben sie nicht. Segenreich, Eisenstein und Lauterbach und all die anderen Orthodoxen und Chassidim gehen Moses Hersch aus dem Weg. Ihre Söhne gehen nicht in die polnische Schule und halten den Sabbat heilig. Moses Hersch ist ein Apikojress, ein Ketzer. In Borysław gibt es keinen Tempel für die anderen, die keinen Kaftan mehr tragen und keine Pejes und die samstags ihre Kinder in die Schule schicken. Sie gehen ins Bethaus vom Fortschrittsverein. Der Fortschrittsverein will einen Tempel erbauen wie in Lemberg. Da soll es eine Orgel geben und einen Rabbiner, der auf Deutsch predigt. Moses Hersch prüft auch seine Kinder am Sabbat nicht über das, was sie während der Woche im Cheder gelernt haben.
Sische, der älteste Sohn, studiert in Wien Medizin, nennt sich Sigmund und wird Chirurg. Osias macht in Wien einen En Gros Handel auf, kauft ein Zinshaus und nennt sich Oskar. Jakob wird ein berühmter pathologischer Anatom in Wien. Awrum, später Adolf, bleibt in Drohobycz und wird Grubenverwalter. Pinkas, seit der Matura Peter, wird Advokat und lässt sich in Zabłotow nieder. Moses Hersch ist sehr stolz auf seine Söhne, ganz besonders aber auf Jakob.
September 1914. Die Russen kommen. Die Grenze haben sie schon überschritten. Bald sind sie in Lemberg. Und dann sind sie auch bald in Drohobycz. Es wird Pogrome geben. Man hört alles Mögliche. Plünderungen, Raub, Mord, Brandlegungen, Vergewaltigungen, Verschleppung von Weibern, Kindern und Greisen und Verschickung nach Russland. Am schlimmsten ergeht es den Juden. Die jüdischen Häuser werden in Brand gesteckt.
Moses Hersch und Esther weilen im Herbst 1914 in Karlsbad. Sie fahren nicht nach Drohobycz zurück, sondern nach Wien und beziehen eine kleine Wohnung in Oskars Haus. 1917 stirbt Esther, 1922 Moses Hersch. Die Million Kronen, die er hinterlassen hat, ist nichts mehr wert.





Mea Shearim

Welche stat haben die jiden gebaut in zeit wen sei gewen knecht in mizraim? Wos is di namen fun di frau von josef? Wos is di namen fun der zweite son fun jehuda ben jakob? Oif wem hat jakob aroif gelegt sein linke hant wen er hat gebentscht di kinder fun josef?
Ein Kinderspiel in Jiddisch. Mentschen un plezer in tora. 288 Fragen. Für Kinder ab 9 Jahre. Für die Kinder in Mea Shearim. Für die Kinder, die den ganzen Tag nichts anderes tun als chumesch studieren. Die Kinder, die im Sommer bei 33 Grad dicke Wollstrümpfe tragen und langärmlige Leibern und Jäckchen darüber. Die größeren Mädchen in dunkelblauen Faltenröcken, hellblauen Blusen und dunkelblauen Wolljackerln. Wie Klosterschülerinnen in den 50er Jahren. Die Buben in dunkelgrauen langen Hosen, manchmal dreiviertellang, aber mit Kniestrümpfen und in dunkel karierten Hemden. Die kleineren Buben haben ein Kindergartentäschchen umgehängt, nur die Buben. Wenn sie in die Talmud-Thora-Schule gehen. Die kleinen Mädchen dürfen nicht lernen. Mea Shearim, hundert Tore. Und Isaak säte in seinem Lande und erntete in jenem Jahre hundertfach, denn der Herr segnete ihn. Mea Shearim, wo man lebt wie im Stettl, wo die Zeit 200 Jahre stehen geblieben ist. Wo die zweistöckigen Häuser verfallen sind. Häuser mit winzigen Wohnungen übereinander. Die oberen Wohnungen durch Stiegen und eine Galerie von der Straße aus erreichbar. Die Drähte hängen außen an der Fassade und quer über die Straße. Ein abgeschlossenes Areal, 1880 erbaut, ein rechteckiger Block mit vier Toren, nach und nach drum herum gebaut. Auf jedem Tor ein Schild in Russisch, Französisch, Englisch und Hebräisch, dass man anständig gekleidet sein muss und die religiösen Gefühle nicht verletzen darf. Fotografieren ist nicht verboten, aber die Mädchen laufen bei einem Versuch davon und die größeren ziehen ihre kleinen Geschwister, die oft zu weinen beginnen, schnell weg. Buben sind argloser, achten nicht so darauf, wenn sie fotografiert werden. Zwischen den Wohnhäusern gibt es Synagogen, Jeschiwes, Talmud-Thora-Schulen. In den Synagogen ist die Frauenabteilung durch ein dichtes Holzgitter abgetrennt, sodass man nicht zu den Männern hinunter sehen kann. Im Block ein Obst- und Gemüseladen, ein Uhrmacher, eine Auslage mit billigem Kopfschmuck, ein kleines Geschäft mit Töpfen, Messern, Scheren, Schuhpasta, Schuhbändern und allerlei Kleinkram und ein Fischgeschäft, nicht sehr sauber, nicht modern, in dem Männer herumstehen und deigezen. Hier fahren keine Autos, nur auf den Straßen rund herum, vor allem auf der Hauptstraße, der Mea Shearim – Straße und Malchei Yisrael – Straße. Hier wimmelt es von Menschen. Männer in schwarzen, braunen, gestreiften, weißen Kaftan mit Kippa und Hut, manche in Knickerbockern und Stutzen, mit langem Bart und struppigen oder schön eingedrehten Pejes. Manche stehen herum und deigezen miteinander, manchmal auf Jiddisch, junge Männer mit einem heiligen Buch in der Hand eilen in die Jeschiwe. Frauen mit Perücke, in billigen, altmodischen Kostümen mit einer Schar von Kindern um sich herum. Hier herrscht ein Gedränge. Besonders wenn sie alle zugleich über die Kreuzung wollen, über die man diagonal gehen kann. Auf der großen Hauptstraße gibt es ein kleines Geschäfte neben dem anderen. Da gibt es jüdische Devotionalien, Menorot, Chanukiot, Dreidels, Gefäße zum Waschen mit zwei Henkeln aus Silber, aus Porzellan, aus Glas einfärbig oder bunt in allen Preislagen, Tücher, um die Challah zuzudecken, auf denen „schabbat wejom tov“ steht, Kerzen für den Schabbat, geflochtene Kerzen für die Hawdalah, den Schabbatausgang, Kippas, T-Shirts mit Zitzen, Ölbilder von berühmten Rabbinern. Geschäfte mit alten und neuen heiligen Büchern, ein ganz modernes Hutgeschäft, in dem es Hüte von 50 Euro aufwärts bis einige hundert gibt, ein Standel mit Hauben in allen Variationen: braune, schwarze, dunkelrote Netze, Hüte mit Mascherln, rosa, hellblaue, beige Tücher mit Verzierungen. Ein kleiner Supermarkt, in dem es eine Kassa für Frauen und eine für Männer gibt, was extra angeschrieben ist. Dazwischen winzige Imbissstuben, wo es Fisch, Huhn, Zimes, Mazesknödel, Tscholent, gefillte Fisch, Kugel süß, salzig und scharf gibt. Aber auch Imbissstuben mit Falafel und Pizza. Keine großartigen Speisen, alles ziemlich billig. Die Leute im Stettl sind arm. Die Männer lernen und die Frauen verdienen das Geld und alle haben sechs, sieben, acht, neun, zehn Kinder. Und die Bäckereien, wo es Rogelach gibt, kleines Gebäck mit Topfen, Schokolade oder Mohn, wo man sich alles mit den Händen nimmt und wo alles um die Hälfte billiger ist als in anderen Stadtteilen. Die Bäckerei am Ende der Wohnstraße, die in die Nathan Strauss Straße mündet, gleich bei der Kreuzung ist am Freitag Vormittag voll mit Männern, die Challah kaufen, die sie lange aussuchen, in die Hand nehmen und wieder zurücklegen, bis sie die richtigen gefunden haben. In Mea Shearim gibt es kein Café. Man darf sich nicht vergnügen, die Männer sollen nur lernen und die Frauen müssen Geld verdienen und sich um die Kinder kümmern. Aber jede Menge Kleidergeschäfte gibt es. Dunkle Kostüme, Röcke bis zu den Waden, Blusen mit Rüschen, Kleider aus schwarzem Samt mit silbernen Blümchen drauf. Abstoßend hässlich. Manche junge Mädchen tragen lange, weite Röcke, aber dunkel, manchmal sogar aus Jeansstoff, und normale T-Shirts, mehrere übereinander und statt einer Haube ein Tuch in die Haare verflochten. An den Hauswänden auf der Mea Shearim-Straße gibt es Plakate mit den jüngsten Neuigkeiten, eine Art Stettlzeitung, wo welches Geschäft aufgemacht hat. Oder: die Rabbiner laden ein, alle zusammen um Regen zu beten. Oder: Es wird gebeten, dass Burschen und Mädchen nicht zusammen im Bezirk spazieren gehen. Bettler erzählen auf Jiddisch, dass sie sieben Kinder haben und nichts zu essen und halten einen so lange fest, bis man 5 Schekel gegeben hat. Andere sammeln für arme Kinder, für eine Talmud-Thora-Schule, für eine Jeschiwe. Am Schabbat ist die Hauptstraße der Corso, das Viertel ist abgesperrt, Autos dürfen nicht herein, das ganze Stettl ist auf den Beinen. Alle sind herausgeputzt, manche Männer mit Streimel und weißen Stutzen. Auch die Kinder spazieren auf und ab, die Kleinen mit den Eltern oder größeren Geschwistern, die größeren allein, ganz brav ohne Geschrei, ohne Rauferei, ohne Gedränge. Und wenn die ersten drei Sterne am Himmel zu sehen sind, rufen junge Männer im Kaftan: Schabbes, schabbes, schabbes.

Montag, 15. Juni 2009

Mein Amerika

Mein Amerika

Warum sind wir hierher gefahren? Wir sind ja in Russland. Alles auf Russisch. Moroschenoje Eis, knigi Bücher, rasprodascha Ausverkauf, schuby Wintermäntel – und das bei der Hitze, Café Arbat, Restaurant Odessa. Russische Tücher, Frauen, die auf der Straße Pirogen verkaufen. Man hört nur Russisch. Nur dass wir in Brighton Beach sind, am untersten Ende von Brooklyn, nicht weit von Coney Island. Es ist ja ganz angenehm, dass alle Leute Russisch sprechen, mein Englisch ist eh hundsmiserabel und Russisch kann ich ganz gut. Aber eigentlich wollte ich ja nach Amerika. Meine russische Freundin Zina aus Lemberg hat alles organisiert. Genau genommen ihre ukrainische Freundin Ira aus Rochester, die mit uns einige Tage in New York verbringen will und zuerst mich vom Flughafen Newark und dann Zina vom J. F. Kennedy Flughafen mit einem ukrainischen Taxifahrer abgeholt hat. Das war eine Mordsaufregung. Zina wollte, dass ich mit ihr von Frankfurt fliege, aber das hätte doppelt so viel gekostet. Sie war schon Wochen vorher aufgeregt. So sehr, bis ich mich schließlich auch aufgeregt habe. Und dann kam noch Ira dazu, die mir aufgeregte Emails geschrieben hat und am Telefon gesagt hat, dass sie sich große Sorgen macht, wie wir uns alle drei in New York treffen werden. Fast hätte es eh nicht geklappt. In Brüssel war ich sieben Minuten vor Abflug nach New York am Gate. Da hab ich Blut geschwitzt. Zu wenig Zeit zum Umsteigen. Noch einmal durch alle Kontrollen. Irgendetwas hat bei mir rot aufgeleuchtet. Mussten die Füße durchleuchtet werden. Die Dame hatte überhaupt kein Verständnis für mich. Ich hätte halt früher kommen sollen. Es leuchtet rot, sie muss die Füße kontrollieren. Und von der letzten Kontrolle war es dann noch so weit bis zum Gate. Ich hatte vor Aufregung schon einen völlig ausgetrockneten Mund. Aber Glück gehabt. Der Taxifahrer fährt uns nach Brighton in ein russisches Hotel. Der Besitzer, ein Russe, natürlich ein russischer Jude, mit einem riesigen Bauch, denkt gar nicht daran uns mit dem Gepäck zu helfen. Er kann nichts tragen, weil er gerade eine schwere Operation hatte. Und der Taxifahrer kann auch nichts tragen, weil er kürzlich eine Bypass Operation hatte. Müssen wir unsere Koffer selbst die steile Treppe hinauf schleppen. Ein Gang mit vier kleinen Zimmern, zwei Toiletten und zwei Duschen am Gang. 70 $. Für New York ist das billig. Zina und Ira sind zusammen in einem Zimmer. Die Russen können ja auf winzigstem Raum zusammen wohnen. Das sind sie aus sowjetischen Zeiten gewohnt. Ich hab wenigstens allein mein Zimmer. Aber es gibt keinen Internetanschluss. Ist auch nicht zu erwarten in so einem Tschocherlhotel. Wir müssen gleich wieder los. Der Taxifahrer wartet auf uns. Ira will, dass er uns noch ins Reisebüro bringt. Sie hat eine Exkursion nach Boston und Washington telefonisch bestellt. Die müssen wir jetzt unbedingt sofort bezahlen. Das Reisebüro ist natürlich auch russisch. Und die Exkursionen werden natürlich auf Russisch sein. Hätte ich gar nicht so viel Englisch lernen müssen. Der Taxifahrer ist gar kein richtiger Taxifahrer, er ist ein Bekannter von Ira und war in Lemberg Zahnarzt. Er lebt aber hier vom Taxifahren, fährt aber nur mit seinem eigenen Wagen. Seine Kunden sind russische Juden. Ob er Antisemit ist? Er ist Ukrainer und die sind oft Antisemiten. Er hat auch so einen großen Bauch, eine Glatze geschnitten und vorne ganz kaputte Zähne. Nur mehr einen Schneidezahn und der ist ein schwarzer Stummel. Er lädt uns noch auf einen Tee zu sich nach Hause ein. Er wohnt ganz in der Nähe vom Hotel. Eine kleine Zweizimmerwohnung. Schaut auch irgendwie sowjetisch aus, sogar das Haus erinnert mich ein bisserl an Russland. Es wohnen auch nur Russen in dem Haus. An der Tür des Nachbars ist eine Mesusa angebracht. Zorjan, der Taxifahrer, sagt, es gibt im Haus viele Leute, die eine Mesusa angebracht haben. Das kenn ich von Israel. Manche sowjetische Juden sind plötzlich fromm geworden. Die Frau arbeitet als Putzfrau. Sie kann kein Wort Englisch. Braucht sie auch nicht, sie kennt nur Leute, die Russisch oder Ukrainisch sprechen. Viel Geld haben sie nicht. Aber sie sind zufrieden. Nach Lemberg wollen sie nicht mehr zurück. Dann fährt uns Zorjan in ein Geschäft, wo man billig einkaufen kann und die Verkäufer Russisch sprechen und gleich daneben zeigt er uns ein russisches Restaurant, wo man billig essen kann. Im Geschäft gibt es nur grausliche Sachen, Brot, dem man schon von weitem ansieht, dass es ungenießbar ist. Nichts fürs Frühstück, da kann man nichts machen. Kauf ich ein abgepacktes Biskuit. Schaut auch nicht toll aus. Zina muss gleich billige T-Shirts anschauen. Sie wird noch sechs Wochen Gelegenheit haben, Fetzen anzuschauen. Aber gleich angekommen, muss sie im größten Ramsch stieren. Das ist immer noch das sowjetische Defizit. Wir gehen ins Restaurant. Die Speisekarte ist auf Russisch und die Speisen auch. Also gibt es am ersten Abend in Amerika Boschtsch und Seljedki. Bin gespannt wie das weiter geht. Der Borschtsch und die Seljedki sind aber tatsächlich ausgezeichnet.
In der Früh steigt einem schon der Geruch von Sosiski, den russischen Knackwürsten, in die Nase. In dem Hotel wohnen natürlich nur Russen und die kochen am Herd am Gang ihre russischen Würste. Das ist so wie die Italiener, die überall in der Welt ihre Spagetti haben müssen. Gemeinsames Frühstück in Zinas und Iras Zimmer, aufklappbarer Tisch und Klappsessel, weil das Zimmer so winzig ist. Eine moderne Komunalka. Wie die zusammen in dem halben Doppelbett schlafen? Jetzt will ich endlich New York sehen. Aber es sind noch Besorgungen in Brighton zu machen. Handykarte für Zina, Handy für mich. Zina besteht darauf, dass ich ein Handy habe. Besorgungen kann man nur in Brigthon machen, weil man hier Russisch spricht. Ira lebt schon 17 Jahre in Amerika, kann aber offenbar schlechter Englisch als ich. Brighton Beach ist nicht gerade ein elegantes Viertel. Kleine Häuschen, ein bisschen schmutzig. Ein Mutterl sitzt auf einem Stockerl und verkauft selbst gestrickte Socken. Ein Mann hat ein paar Mützen in der Hand, die er verkauft. Das kenn ich doch aus Russland. Jetzt seh ich endlich die Hochbahn, die mitten durch die Brighton Avenue führt. Das ist ungeheuerlich. Das ist eigentlich die U-Bahn, die als Hochbahn weiter geht. Mitten durch die Straße knapp an den Häusern vorbei. Sie ist schon hundert Jahre alt. Ich hatte schon ein altes Foto gesehen. Überall werden russische Zeitungen verkauft. Vor einem Geschäft hängt ein Zettel auf Russisch: Wir suchen eine Verkäuferin, Englischkenntnisse nicht erforderlich. Das Meer ist gleich hier. Schaut, man kann es sehen. Da gehen wir aber jetzt hoffentlich nicht hin. Ich will jetzt endlich nach Manhattan. Ira hat für jede von uns einen Plan der Subway besorgt. Die Frau beim Fahrkartensschalter kann nicht Russisch. Die U-Bahn ist exterritorial. Schließlich schaffen wir es, eine Siebentagekarte zu kaufen. Wohin fahren wir? Zum Empire State Building. Nein, da fahren wir jetzt nicht hin. Dann eben nicht. Zum Chrysler Building. Nein, da fahren wir jetzt auch nicht hin. Zur 5th Avenue. Wir fahren zum Times Square, sagt Ira, und von dort fahren wir mit einem Sightseeing Bus. Das ist ein Doppeldeckerbus. Oi je, das fängt ja gut an. Nach einer endlosen Fahrt mit der U-Bahn sind wir endlich am Times Square. Ira stürzt sich gleich auf einen der Männer, die Zettel mit Informationen über die Sightseeing Busse verteilen. Jetzt will ich auf keinen Fall mit so einem Bus fahren und Zina auch nicht. Ira nervt. Wir marschieren los. Schauen, schauen, schauen. Schließlich bin ich das erste Mal in New York. Broadway. Die Ira hat uns natürlich mitten ins Touristenzentrum führen müssen. Macht nichts. Es ist trotzdem toll. Die beiden müssen in jeden Souvenirladen gehen. Meinetwegen. Aber ich will endlich die Wolkenkratzer sehen. Wenn das so weiter geht, kann ich nicht alles sehen, was ich will. In New York gibt es so viel zu sehen. Zina will einen Computer kaufen. Aber doch nicht am ersten Tag. Sie will sie trotzdem jetzt anschauen. Und eine Filmkamera, so wie ich sie habe. Wozu sie die haben will. Sie kennt sich mit dem Computer gar nicht aus. Sie kann kaum Emails schreiben. Das hat gar keinen Sinn. Das Rockefeller Center muss in der Nähe sein. Ich kenn mich schon in New York aus, ich hab mich sehr gut vorbereitet. Wir müssen noch zur Pennsylvania Station, Fahrkarten nach Rochester kaufen. Aber doch nicht heute. Ira nervt. Die können wir sicher auch am Grand Central Bahnhof kaufen. Den möchte ich mir sowieso anschauen. Jetzt übernehme ich die Führung, rechts rein zum Rockefeller Center. Meine New York erfahrene Freundin Susi hat schon gesagt, die Touristen erkennt man daran, dass sie immer hinauf schauen. Ich muss auch immer hinaufschauen. Die Damen müssen auf die Aussichtsplattform. Ich hab eine Höhenphobie und meide Aussichtstürme. Derweil flaniere ich herum und schau. Ich kann mich gar nicht satt sehen. Ich möchte mich gerne wo hinsetzen und hinauf schauen. Nur Plätze in der Sonne. Für Anfang September ist es noch ganz schön heiß. Wenn Ira unbedingt noch Fahrkarten kaufen will, dann können wir ja zum Grand Center Bahnhof fahren. Der muss sehr schön sein. Wie schön muss erst die Pennsylvania Station gewesen sein. Mitte der 60er Jahre haben ihn Idioten abgerissen. Es gibt hier tatsächlich keine Fahrkarten nach Rochester. Da hat die verrückte Ira recht gehabt. Todmüde fahren wir nach Hause. Eingekauft wird in Brighton. Wir könnten ja in das Restaurant St. Petersburg gehen. Schaut sehr sowjetisch aus. Lieber einkaufen im russischen Geschäft. Hier gibt es alles wie in Russland. Russische Wurst, russischen Käse, echten Kefir, Kwas, Sefir, russisches Konfekt. Aber Topfen aus Israel. Die Damen wollen Fisch kaufen. Geräucherten Thunfisch und Lachs. Natürlich auf russische Art geräuchert. Die beiden tun so, als ob das ganz normal ist, dass man in New York russische Lebensmittel kauft. Damit nicht alles Russisch ist, kaufe ich einen kalifornischen Wein. Da liegt einer am Gehsteig. Das kenn ich auch aus Russland. In Russland saufen bekanntlich auch die Juden. Also auch in Brighton Beach. Ich muss ein Email schicken, dass ich gut angekommen bin. Mit meinem neuen Minicomputer komm ich im Hotel nicht ins Netz. Kein freier Zugang. Muss ich ins Internetcafé. Vielleicht komm ich ja in einem Café ins Netz. Es ist schon ½ 10, aber ich geh trotzdem noch weg. So gefährlich wird es schon nicht sein. Auf der Brighton Avenue gibt es ein Starbuck. Das gibt es hierzulande an jeder Ecke. Sogar in Wien nisten sie sich schon ein. Aber ins Internet komm ich hier auch nicht mit meinem Laptop. Und an der Theke spricht auch niemand Russisch. Das einzige Etablissement hier, in dem nicht Russisch gesprochen wird. Sogar in der Bank sprechen sie Russisch. Aber Starbuck ist eben amerikanisch. Also ins Internetcafé, wo man natürlich auch Russisch spricht. Es ist schon ½ 11. Sehr gemütlich ist es auf der Straße nicht. Sehr schmutzig. Der Müll türmt sich am Straßenrand. Ich melde mich bei den Damen zurück, damit sie sich nicht sorgen. Sie haben inzwischen den Wein ausgetrunken. Ich bin todmüde und schlaf sofort ein.