Mittwoch, 17. Juni 2009

Mea Shearim

Welche stat haben die jiden gebaut in zeit wen sei gewen knecht in mizraim? Wos is di namen fun di frau von josef? Wos is di namen fun der zweite son fun jehuda ben jakob? Oif wem hat jakob aroif gelegt sein linke hant wen er hat gebentscht di kinder fun josef?
Ein Kinderspiel in Jiddisch. Mentschen un plezer in tora. 288 Fragen. Für Kinder ab 9 Jahre. Für die Kinder in Mea Shearim. Für die Kinder, die den ganzen Tag nichts anderes tun als chumesch studieren. Die Kinder, die im Sommer bei 33 Grad dicke Wollstrümpfe tragen und langärmlige Leibern und Jäckchen darüber. Die größeren Mädchen in dunkelblauen Faltenröcken, hellblauen Blusen und dunkelblauen Wolljackerln. Wie Klosterschülerinnen in den 50er Jahren. Die Buben in dunkelgrauen langen Hosen, manchmal dreiviertellang, aber mit Kniestrümpfen und in dunkel karierten Hemden. Die kleineren Buben haben ein Kindergartentäschchen umgehängt, nur die Buben. Wenn sie in die Talmud-Thora-Schule gehen. Die kleinen Mädchen dürfen nicht lernen. Mea Shearim, hundert Tore. Und Isaak säte in seinem Lande und erntete in jenem Jahre hundertfach, denn der Herr segnete ihn. Mea Shearim, wo man lebt wie im Stettl, wo die Zeit 200 Jahre stehen geblieben ist. Wo die zweistöckigen Häuser verfallen sind. Häuser mit winzigen Wohnungen übereinander. Die oberen Wohnungen durch Stiegen und eine Galerie von der Straße aus erreichbar. Die Drähte hängen außen an der Fassade und quer über die Straße. Ein abgeschlossenes Areal, 1880 erbaut, ein rechteckiger Block mit vier Toren, nach und nach drum herum gebaut. Auf jedem Tor ein Schild in Russisch, Französisch, Englisch und Hebräisch, dass man anständig gekleidet sein muss und die religiösen Gefühle nicht verletzen darf. Fotografieren ist nicht verboten, aber die Mädchen laufen bei einem Versuch davon und die größeren ziehen ihre kleinen Geschwister, die oft zu weinen beginnen, schnell weg. Buben sind argloser, achten nicht so darauf, wenn sie fotografiert werden. Zwischen den Wohnhäusern gibt es Synagogen, Jeschiwes, Talmud-Thora-Schulen. In den Synagogen ist die Frauenabteilung durch ein dichtes Holzgitter abgetrennt, sodass man nicht zu den Männern hinunter sehen kann. Im Block ein Obst- und Gemüseladen, ein Uhrmacher, eine Auslage mit billigem Kopfschmuck, ein kleines Geschäft mit Töpfen, Messern, Scheren, Schuhpasta, Schuhbändern und allerlei Kleinkram und ein Fischgeschäft, nicht sehr sauber, nicht modern, in dem Männer herumstehen und deigezen. Hier fahren keine Autos, nur auf den Straßen rund herum, vor allem auf der Hauptstraße, der Mea Shearim – Straße und Malchei Yisrael – Straße. Hier wimmelt es von Menschen. Männer in schwarzen, braunen, gestreiften, weißen Kaftan mit Kippa und Hut, manche in Knickerbockern und Stutzen, mit langem Bart und struppigen oder schön eingedrehten Pejes. Manche stehen herum und deigezen miteinander, manchmal auf Jiddisch, junge Männer mit einem heiligen Buch in der Hand eilen in die Jeschiwe. Frauen mit Perücke, in billigen, altmodischen Kostümen mit einer Schar von Kindern um sich herum. Hier herrscht ein Gedränge. Besonders wenn sie alle zugleich über die Kreuzung wollen, über die man diagonal gehen kann. Auf der großen Hauptstraße gibt es ein kleines Geschäfte neben dem anderen. Da gibt es jüdische Devotionalien, Menorot, Chanukiot, Dreidels, Gefäße zum Waschen mit zwei Henkeln aus Silber, aus Porzellan, aus Glas einfärbig oder bunt in allen Preislagen, Tücher, um die Challah zuzudecken, auf denen „schabbat wejom tov“ steht, Kerzen für den Schabbat, geflochtene Kerzen für die Hawdalah, den Schabbatausgang, Kippas, T-Shirts mit Zitzen, Ölbilder von berühmten Rabbinern. Geschäfte mit alten und neuen heiligen Büchern, ein ganz modernes Hutgeschäft, in dem es Hüte von 50 Euro aufwärts bis einige hundert gibt, ein Standel mit Hauben in allen Variationen: braune, schwarze, dunkelrote Netze, Hüte mit Mascherln, rosa, hellblaue, beige Tücher mit Verzierungen. Ein kleiner Supermarkt, in dem es eine Kassa für Frauen und eine für Männer gibt, was extra angeschrieben ist. Dazwischen winzige Imbissstuben, wo es Fisch, Huhn, Zimes, Mazesknödel, Tscholent, gefillte Fisch, Kugel süß, salzig und scharf gibt. Aber auch Imbissstuben mit Falafel und Pizza. Keine großartigen Speisen, alles ziemlich billig. Die Leute im Stettl sind arm. Die Männer lernen und die Frauen verdienen das Geld und alle haben sechs, sieben, acht, neun, zehn Kinder. Und die Bäckereien, wo es Rogelach gibt, kleines Gebäck mit Topfen, Schokolade oder Mohn, wo man sich alles mit den Händen nimmt und wo alles um die Hälfte billiger ist als in anderen Stadtteilen. Die Bäckerei am Ende der Wohnstraße, die in die Nathan Strauss Straße mündet, gleich bei der Kreuzung ist am Freitag Vormittag voll mit Männern, die Challah kaufen, die sie lange aussuchen, in die Hand nehmen und wieder zurücklegen, bis sie die richtigen gefunden haben. In Mea Shearim gibt es kein Café. Man darf sich nicht vergnügen, die Männer sollen nur lernen und die Frauen müssen Geld verdienen und sich um die Kinder kümmern. Aber jede Menge Kleidergeschäfte gibt es. Dunkle Kostüme, Röcke bis zu den Waden, Blusen mit Rüschen, Kleider aus schwarzem Samt mit silbernen Blümchen drauf. Abstoßend hässlich. Manche junge Mädchen tragen lange, weite Röcke, aber dunkel, manchmal sogar aus Jeansstoff, und normale T-Shirts, mehrere übereinander und statt einer Haube ein Tuch in die Haare verflochten. An den Hauswänden auf der Mea Shearim-Straße gibt es Plakate mit den jüngsten Neuigkeiten, eine Art Stettlzeitung, wo welches Geschäft aufgemacht hat. Oder: die Rabbiner laden ein, alle zusammen um Regen zu beten. Oder: Es wird gebeten, dass Burschen und Mädchen nicht zusammen im Bezirk spazieren gehen. Bettler erzählen auf Jiddisch, dass sie sieben Kinder haben und nichts zu essen und halten einen so lange fest, bis man 5 Schekel gegeben hat. Andere sammeln für arme Kinder, für eine Talmud-Thora-Schule, für eine Jeschiwe. Am Schabbat ist die Hauptstraße der Corso, das Viertel ist abgesperrt, Autos dürfen nicht herein, das ganze Stettl ist auf den Beinen. Alle sind herausgeputzt, manche Männer mit Streimel und weißen Stutzen. Auch die Kinder spazieren auf und ab, die Kleinen mit den Eltern oder größeren Geschwistern, die größeren allein, ganz brav ohne Geschrei, ohne Rauferei, ohne Gedränge. Und wenn die ersten drei Sterne am Himmel zu sehen sind, rufen junge Männer im Kaftan: Schabbes, schabbes, schabbes.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen