Mittwoch, 17. Juni 2009

Mein Urgroßvater aus dem galizischen Stetl

Moses Hersch ist ein gottesfürchtiger Mann, aber nicht fanatisch. Er spricht die Gebete und geht in die Synagoge oder ins Bethaus, hält den Sabbat und die Feiertage heilig, aber trägt unter der Woche keinen Kaftan und hat keine Pejes. An normalen Tagen trägt er einen kurzen Rock wie ein Deutsch, eine Weste mit Uhrkette, lange Hosen und Stiefel. Er ist kein Anhänger eines Wunderrabbis, aber er spendet für die Armen, für die Abbrändler, für die Waisen und für die Volksküche. Er liest den Magid, eine fortschrittliche Zeitung auf Hebräisch und er ist Mitglied des Vereins für Fortschritt und Bildung, aber auch des jüdischen Armen- und Bedürftigenversorgungsvereins. Er spottet über den Rebbe von Belz, den größten Wunderrabbi Galiziens, und höhnt, dass der Rebbe von Rzerzow größer ist als der Rebbe von Kiew. Er liest das jüdische Volksblatt von Borysław, eine Zeitung in Jiddisch, die jeden Freitag erscheint. Und am Sabbat liest er in der Thora und im Talmud. Er ist zwar nicht sehr gebildet, aber in einfacheren Teilen des Talmuds findet er sich zurecht. Es genügt an Gott zu glauben und Jude zu sein.
Moses Hersch wurde 1842 in Sosnica geboren. Die Familie war arm, bitter arm. Sein Vater war Tischler, die Mutter handelte mit Salz, Brot, Mehl, Zwiebeln, Heringen, Kerzen, Messern, Besen und Branntwein. Aber alle handeln, und das Geschäft brachte nur wenige Kreuzer am Tag. Vater, Mutter und vier Kinder wohnten in einer Hütte mit Lehmboden in einem einzigen Raum. Unter der Woche hatten sie kaum genug zu essen. Aber am Sabbat gab es Challah und gefillte Fisch und manchmal ein Huhn. Als Moses Hersch zwanzig war, heiratete er und zog nach Sambor zu den Eltern seiner Frau. Er hörte, daß man in Borysław reich werden kann und beschloß, dort sein Glück zu versuchen. Damals hatte es in dem kleinen Dorf mit den paar hundert Einwohnern noch fast keine Juden gegeben. Ein paar Jahre später wohnten schon siebentausend Juden in Borysław. Esther, Moses Herschs Frau, hatte eine kleine Mitgift in die Ehe gebracht. Davon kaufte er im Jahre 1866 von einem ruthenischen Bauern zusammen mit anderen um einen Spottpreis ein Stück Grund. So erwarb er einige Anteile an Gruben. Und kam zu Geld. Damals war es noch Erdöl, das aus den Gruben förmlich heraus brach. Die Bauern wußten nicht, wie wertvoll ihre Felder waren. Borysław – ein kleines, verschlafenes, ruthenisches Dorf am Fuße der Karpaten, im Osten Galiziens, des ärmsten Kronlands der Monarchie. Bis die Goldgräber kamen. Juden, die über Nacht reich wurden. Über dem ganzen Dorf hängt der Geruch von Erdöl. Die Straßen sind schlammig, ölgetränkt, ein gelber morastartiger Kot. Schmale Bretterstege dienen als Fußweg. Die Häuser sind aus Holz, nebeneinander oder auseinander gestreut auf einer kleinen Anhöhe. Auf den Straßen tummeln sich Wasserträger, Lepträger, jüdische und ruthenische Arbeiter in schmierigen, zerschlissenen Gewändern und mit Öl beschmierten Gesichtern, die Ruthenen meist barfuß, die Juden mit Pejes und im Kaftan, Händlerinnen, die Zwiebeln und Heringe verkaufen, Juden, die ihre Waren feilbieten, Schnitt- Ton- und Eßwaren, Kinder, die schwere Säcke schleppen, Luftmenschen, Menschen in Lumpen, die keine Arbeit haben und Betrunkene. Stellenweise versinkt man knietief im Kot. Irgendwo hockt jemand bei einem Zaun und verrichtet sein Geschäft, weil es keine Aborte gibt.
Mit Kornhaber, Mendelson und Gottesmann hat Moses Hersch eine Firma gegründet. Ein Erdwachs-Export-Geschäft. Sie liefern nach Lemberg, Prag und Wien. Aber auch an die Paraffinfabrik in Drohobycz. Moses Hersch ist ein verträglicher Mensch und kommt mit seinen Kompagnions gut aus. Er selbst ist umsichtig, niemals leichtsinnig und rechnet sorgfältig. Wer im Leben nicht rechnet, stirbt ohne Gnade. Die Erdölraffinerie in Hubicze ist nicht groß. Sie gehört Moses Hersch allein. Vierzig Arbeiter sind beschäftigt, Juden und Ruthenen, Männer und Frauen. Die Juden arbeiten sonntags, die Ruthenen samstags. Sie arbeiten 12 Stunden. Moses Hersch schlägt nie einen Arbeiter. Die Aufseher machen das manchmal. Zu Peissach spendet Moses Hersch jedem Arbeiter einen Gulden. Er geht jeden Tag in die Fabrik, obwohl er einen Direktor und einen Buchhalter hat. Er kontrolliert regelmäßig die Bestellungen und Quittungen. Das Petroleum wird nach Lemberg und Wien geliefert.
Anfangs war er nur unter der Woche in Borysław und übernachtete in der Schenke, Donnerstag abend oder Freitag vormittag fuhr er nach Sambor, um mit der Familie den Sabbat zu feiern. Esther gebar ein Mädchen, das bei der Geburt starb. Ein Jahr darauf einen Sohn, Sische. Bald war Moses Hersch wohlhabend und kaufte ein Haus in Borysław. Ein Haus mit fünf Zimmern und einer Veranda auf der Ulica Panska. Ein Zimmer dient als Geschäft. Drei Jahre später kam Osias zur Welt, zwei Jahre später Jakob, 1875 Awrum und ein Jahr danach Pinkas. Moses Hersch ist klein, hat tief liegende Augen und einen üppigen Bart mit weißen Fäden darin. Und einen würdevoll energischen Gesichtsausdruck. Esther ist groß, ein Stück größer als ihr Mann, stark und hat ein trauriges Gesicht. Sie hat einen Scheitl und trägt ein großes kariertes Tuch, wenn sie ausgeht. Am Sabbat liest sie in ihrer jiddischen Bibel und dem Gebetbuch, das ein silbernes Schloß hat. Esther arbeitet im Geschäft. Dreimal in der Woche kommt ein Student aus Drohobycz, um Moses Hersch und Esther Deutschunterricht zu geben. Ein Gymnasiast der siebenten Klasse. Auch die Kinder bekommen Deutschunterricht. Moses Hersch kann zwar noch nicht perfekt Deutsch, hat aber eine Schillerausgabe gekauft, in der er abends im Lehnstuhl sitzend mit einem Glas Bier, Kichererbsen und einer Zigarre liest.
Moses Hersch hat mit dem Erdöl und Erdwachs ein kleines Vermögen erworben. Er kauft eine Bierbrauerei in Drohobycz, wo er sich später zur Ruhe setzen will. Es ist nur eineinhalb Meilen von Borysław entfernt und es stinkt nicht nach Erdöl. Er übernimmt vierzehn Arbeiter, ruthenische Bauernburschen, drei gelernte Arbeiter und den Braumeister, der für den Ablauf der Arbeit verantwortlich ist, Gerste, Hopfen und Hefe einkauft, sich um die Maschinen kümmert und ein Auge auf die Ochsen, Pferde und Wagen hat. Es wird sechzehn Stunden gearbeitet, um vier Uhr früh wird begonnen. Nach fünf Stunden gibt es eine Pause. Jeden Tag gibt es eineinhalb Liter Freibier und eine Jause als Teil des Lohns. Moses Hersch fährt fast nie nach Drohobycz in die Brauerei. Er versteht auch gar nichts von der Bierbrauerei. Chaim Alter, der junge Gottesmann, wohnt schon in Drohobycz bei seinem Schwiegervater. Er schaut manchmal in die Brauerei, ob alles in Ordnung ist.
Moses Hersch und Esther haben sich wie alle Juden erst knapp vor der Hochzeit kennen gelernt. Sie vertragen sich recht und schlecht. Öfter einmal gibt es Streit. Meistens setzt sich Moses Hersch durch. Aber er ist zufrieden, weil Esther fruchtbar ist und lauter Söhne gebiert. Moses Hersch ist fortschrittlich. Und Esther geht das manchmal zu weit. Dann gibt es Streit. Esther hat durchgesetzt, dass die Kinder in den Cheder gehen. Moses Hersch ist kein Freund des Cheder. Das ist etwas für die Orthodoxen und die Chassidim. Sie lernen nur Chumesch und Mischnah und Gemara. Und sie lernen es auf törichte Weise mit Schlägen und Drill. Damit kann man nichts werden im Leben. Die Kinder sollen etwas Ordentliches lernen und studieren. Sie sollen Ärzte werden. Oder Advokaten. Sie sollen Polnisch lesen und schreiben lernen, weil es in Borysław nur eine polnische Volksschule gibt. Aber besser Polnisch als den ganzen Tag über dem Talmud zu sitzen. Und sie sollen Rechnen und Deutsch lernen. Und wenn sie nicht Ärzte werden, dann sollen sie Kaufleute werden. Aber sie sollen studieren. Als Arzt oder Advokat kann man als Jude überall arbeiten. Ganz aber dürfen sie die heiligen Bücher nicht vergessen. Jeden Tag kommt ein privater Religionslehrer eine Stunde. Weil es in der polnischen Volksschule keinen jüdischen Religionsunterricht gibt. Er ist kein Chassid, aber orthodox, und duldet die Fortschrittlichen. Nur nicht mehr in den fanatisierten Cheder. Die Kinder tragen auch keine Jarmulke mehr. Auch gehen sie samstags in die Schule, nur schreiben sie nicht. Segenreich, Eisenstein und Lauterbach und all die anderen Orthodoxen und Chassidim gehen Moses Hersch aus dem Weg. Ihre Söhne gehen nicht in die polnische Schule und halten den Sabbat heilig. Moses Hersch ist ein Apikojress, ein Ketzer. In Borysław gibt es keinen Tempel für die anderen, die keinen Kaftan mehr tragen und keine Pejes und die samstags ihre Kinder in die Schule schicken. Sie gehen ins Bethaus vom Fortschrittsverein. Der Fortschrittsverein will einen Tempel erbauen wie in Lemberg. Da soll es eine Orgel geben und einen Rabbiner, der auf Deutsch predigt. Moses Hersch prüft auch seine Kinder am Sabbat nicht über das, was sie während der Woche im Cheder gelernt haben.
Sische, der älteste Sohn, studiert in Wien Medizin, nennt sich Sigmund und wird Chirurg. Osias macht in Wien einen En Gros Handel auf, kauft ein Zinshaus und nennt sich Oskar. Jakob wird ein berühmter pathologischer Anatom in Wien. Awrum, später Adolf, bleibt in Drohobycz und wird Grubenverwalter. Pinkas, seit der Matura Peter, wird Advokat und lässt sich in Zabłotow nieder. Moses Hersch ist sehr stolz auf seine Söhne, ganz besonders aber auf Jakob.
September 1914. Die Russen kommen. Die Grenze haben sie schon überschritten. Bald sind sie in Lemberg. Und dann sind sie auch bald in Drohobycz. Es wird Pogrome geben. Man hört alles Mögliche. Plünderungen, Raub, Mord, Brandlegungen, Vergewaltigungen, Verschleppung von Weibern, Kindern und Greisen und Verschickung nach Russland. Am schlimmsten ergeht es den Juden. Die jüdischen Häuser werden in Brand gesteckt.
Moses Hersch und Esther weilen im Herbst 1914 in Karlsbad. Sie fahren nicht nach Drohobycz zurück, sondern nach Wien und beziehen eine kleine Wohnung in Oskars Haus. 1917 stirbt Esther, 1922 Moses Hersch. Die Million Kronen, die er hinterlassen hat, ist nichts mehr wert.





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