Donnerstag, 18. November 2010

"Nitschewo" - Claudia Erdheim zum 65. Geburtstag

von Christa Nebenführ (Podium 157/158, 2010)

Selten habe ich so lange über den passenden Einstieg für einen Text gegrübelt wie diesmal. Fange ich beim literarischen Debüt an? Bei der Biographie? Oder bei der persönlichen Bekanntschaft, die mir viele Einblicke in literarische und gesellschaftspolitische, ästhetische und betriebsimmanente Zusammenhänge gewährt hat. Aber wahrscheinlich bin ich mit diesem Eingeständnis schon mittendrin: Claudia Erdheims Metier ist die literarische Kritik. Keinesfalls in Form von Weltschmerz und Klagelied (solche Zumutungen würde sie entrüstet zurückweisen), sondern der von scharfer Beobachtung und lakonischer Ironie. Keine Schnörkel, kein Kitsch, um Gottes Willen keine salbungsvollen Tiraden. Die einzige Verfremdung der gnadenlosen Realität, die sie sich zugesteht, ist der Witz. Die Philosophin, die viele Jahre an den Universitäten Kiel, Hamburg und Wien Vorlesungen über Logik gehalten hat, entlarvt die Inkohärenz der Wirklichkeit mit schallendem Gelächter. Das gilt übrigens auch für die private Claudia: Was haben wir gelacht! Oft war es irgendeine ungewollt doppeldeutige Formulierung, deren gemeinsames Verständnis sie bestätigte, indem sie sie mit dem vertrauten Lachen quittierte. Darüber hinaus sollte sie mir zu einer treuen Freundin werden, die mir in einer Zeit großer Belastungen geduldig zuhörte und niemals der Versuchung erlag, meine Erlebnisse zu bagatellisieren.

Zum ersten Mal bin ich ihr bei einem Treffen slowakischer und österreichischer Autorinnen und Autoren in Budmerice begegnet, das Zdenka Becker 1993 für das Podium organisiert hatte. Das war allerdings kein Zufall. In meiner Herkunftsfamilie war, in krassem Gegensatz zu Claudias, alles was mit Psychoanalyse zu tun hat, mit großen Ressentiments belegt. Umso größer war daher mein Wissensdurst auf diesem Gebiet. Und so las ich nach Marie Cardenals „Schattenmund“ Claudia Erdheims „Herzbrüche“. Und als ich bei der Einladung zum erwähnten Treffen ihren Namen auf der Teilnehmerliste vorfand, wusste ich: Da muss ich hin. Die muss ich kennen lernen. Damals begannen die gemeinsamen Lachsalven, die meine Erwartungen nach der Lektüre der „Herzbrüche“ bestätigten: Einer Schriftstellerin zu begegnen, die nichts verschont, auch sich selbst nicht. Das ist eine der Weisheiten, und das ist jetzt keinesfalls ironisch gemeint, die ich ihr verdanke: dass literarisches Schreiben nichts für Angsthasen ist. „Ich male nach der Wirklichkeit“ schrieb sie frei nach Karl Kraus in einem ihrer ersten Bücher und ich war verblüfft, dass das jemand so schonungslos ausspricht. Mittlerweile bin ich überzeugt, und nicht zuletzt durch die vielen Gespräche mit Claudia, dass der Weichzeichner auf Kosten von Originalität und Qualität geht.

Vor den „Herzbrüchen“, in denen eine mit allen Wassern der Psychoanalyse gewaschene Analysandin im inneren Monolog die eigene Analyse zerpflückt, hatte Claudia Erdheim mit „Bist du wahnsinnig geworden?“ debütiert. Die Psychoanalytikerin und Mitbegründerin der Ethnopsychoanalyse Goldy Parin-Matthéy charakterisiert Erdheims Erzählverfahren treffend mit den Worten, dass sie in diesem Roman einer aufreibenden Mutter-Tochter-Beziehung „im Leser durch Ersparung des Aufwandes von Mitleiden Komik erzeugt.“

Claudia Erdheim wurde wenige Monate nach Kriegsende am 6. Oktober 1945 als zweite Tochter einer der ersten Psychoanalytikerinnen Wiens, Tea Erdheim, die großbürgerlich-jüdischer Herkunft war, und des sozialistischen und später kommunistischen Widerstandskämpfers Laurenz Genner geboren. „Zuerst haben meine Eltern wegen des Standesunterschiedes nicht heiraten können, später wegen der Rassegesetze und als es dann endlich möglich war, ist die Ehe bald gescheitert.“ Der Schutzumschlag ihres ersten Romans zeigt im Hintergrund, durch Überbelichtung zum Ornament verdichtet, das Chaos im mütterlichen Haushalt. Den Kontakt zu Claudias Vater hat Tea Erdheim nach der Trennung im Jahr 1947 gänzlich abgebrochen, sodass sich die Tochter erst mit der Recherche zu ihrem bislang letzten Roman „Längst nicht mehr koscher“ der Vaterfigur nähern und ein präziseres Bild von den familiär-gesellschaftlichen Verstrickungen, die ihre Kindheit prägten, gewinnen konnte. Ihre ersten beiden Romane hatten in der damals sehr virulenten Psychiatrie- auch außerhalb der literarischen Welt ein deutliches Echo gefunden. Mit ihrem Fokus auf die Immunisierungsstrategie der Psychoanalyse war Claudia Erdheim mitten drinnen und wurde zu einschlägigen Aufsätzen und der Teilnahme an einer Club 2 Diskussion eingeladen, bei der sie ihre Standpunkte mit der gewohnten Konsequenz vertrat.

Obwohl sie bis 2005 an der Universität Wien Vorlesungen über Logik hielt, war klar, dass sie sich nicht bei einer philosophischen oder psychologischen Kontroverse aufhalten, sondern ihre literarische Entwicklung weiter treiben würde. Die Romane „Ohnedies höchstens die Hälfte“ und „Die Realitätenbesitzerin“ nahmen das Universitätsangehörigen- und Immobilienverschiebergeflecht aufs Korn. In ihrem ersten Erzählband, der danach erschienen ist, taucht mit „Der Erdheimstammtisch“ die Familie wieder auf. Während einer Szene sind Claudia, genannt Clautschi, mit ihrem Mann Siegfried, genannt Schweinchen, ihre Schwester Maria, genannt Itschi, mit ihrem Mann Fafnir und ihrer Tochter Diana, genannt Schnecki, die Mutter der beiden Schwestern Tea, genannt Grandy, und Fafniers Mutter Käthe anwesend: „Hast du jetzt Urlaub, Maria? Ja. Wie lang hast du Urlaub? Eine Woche; aber wir bleiben nicht so lang in Wien; wir wollen noch nach Sizilien fahren. Warum nach Sizilien? Die Käthe hat sich immer noch nicht hingesetzt und steht mitten im Zimmer mit vom Körper weggespreizten Armen, was sie für vornehm hält. No so, weil es dort warm ist, singt die Itschi, schiebt die etwas zu dick geratene Unterlippe vor und kommt sich gut vor. Wann wollt ihr fahren? Zu Silvester wahrscheinlich. Ich hab für Silvester schon einen Truthahn bestellt. Dann bestell ihn wieder ab.“1

Vermutlich ist es Käthe, die den Truthahn bestellt hat und vermutlich ist es ihre Schwiegertochter Maria, die sie davon zu überzeugen versucht, ihn wieder abzubestellen. Aber ebenso gut könnte jeder andere aus der Runde fragen, wann sie fahren wollen und der knappe Ratschlag, den Truthahn abzubestellen, könnte sehr gut von Grandy kommen. Immer wieder kommt es vor, dass jemand Erdheims Technik, Gesprächsfetzen um den Kopf des Lesers schwirren zu lassen, ohne sie genau ihren Rednern zuzuordnen, - und der man Verfremdungsintentionen genauso gut wie Hyperrealismus unterstellen könnte, die aber meiner Vermutung am ehesten ihrem Stil der größtmöglichen Verknappung zuzurechnen ist, - für eine zufällige Unaufmerksamkeit hält. Darüber hat Erdheim schon in den Herzbrüchen gespottet, als die Ich-Erzählerin einen Metakommentar zum Kommentar ihrer Analytikerin liefert: „Meine Geschichte findet sie ganz nett. Aber man weiß gar nicht, wer jetzt eigentlich redet. Richtig empört ist sie darüber. Kleinkarierte Deutschlehrermentaliät.“

Mit der Deutschlehrermentalität sollte sich Claudia nie anfreunden. Schon den Jugendfreund Reinhardt Priessnitz, von dem es am Schluss ihres ersten Romans heißt: „Ich mach Matura und er will Dichter werden.“ hat sie für seine Souveränität gegenüber dieser Mentalität bewundert: „Der Dieter schreibt alles klein. Der Enzensberger schreibt ja auch alles klein. In der Schule hat er sogar einmal in einer Schularbeit alles klein geschrieben. Das trau ich mich nicht.“ Zum regelrecht sinnlichen Genuss wird die Klinge ihrer Kritik, wenn sie in der Titel gebenden Geschichte ihres ersten Erzählbandes den Universitätsprofessor „Karli“ auf eine Gourmetreise schickt, während der dieser unter dem ständigem Prüfungsstress steht, seine Kultiviertheit unter Beweis zu stellen. Als Bonus können Leser und Leserinnen dabei das Wissen um Ausdrücke und Usancen der Haubenküche mitnehmen. Privat habe ich Claudia nicht als abgehobene Haubentesterin sondern als exzellente Gastgeberin kennen gelernt. Besonders erinnere ich mich an einen Abend, an dem Kollegen aus der Literatur, vom Institut, Mieter des Hauses und russische Intellektuelle, die sie im Zuge ihrer Recherchen im Baltikum, Russland und der Ukraine kennen gelernt hatte, bei ihr zusammenkamen. Das Gespräch drehte sich um General Lebed, der einige Jahre später bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kommen sollte, sodass für alle Zeiten offen bleibt, ob eher die besorgten oder die Hoffungsstimmen berechtigt waren. Hans-Dieter Klein ist mir im Gedächtnis geblieben, Helmut Peschina und Monika Meister, am deutlichsten aber die göttliche Kruste von Claudias Schweinsbraten. Nur wer diese je kennen gelernt hat, kann ermessen, was für eine monströse Absurdität Claudia widerfuhr, als sie mehrere Jahre krankheitsbedingt auf eine überaus strenge Diät angewiesen war.

Der zweite Erzählband „Virve“ hatte den Beginn von Claudia Erdheims Interessensverlagerung in Richtung osteuropäischen Alltags und seiner Geschichte, insbesondere des galizischen Judentums, aus dem die mütterliche Linie ihrer Familie stammt, markiert. Die damit verbunden häufigen und teilweise mehrere Monate in Anspruch nehmenden Auslandsaufenthalte haben sie auch bewogen, mir die Weiterführung der von ihr begründeten und zehn Jahre lang geleiteten Sommerlesereihe des Literaturkreises Podium im Café Prückel anzubieten. Aus diesen Reisen entstanden aktuelle und dokumentarische Bildbände, eine Radioarbeit sowie das Symposion zu Karl Emil Franzos, vor allem aber bereiteten sie Claudia Erdheims bislang letzten Roman „Längst nicht mehr koscher“ vor, der dort endet, wo „Bist du wahnsinnig geworden?“ begonnen hat. Es ist die Geschichte einer verzweigten jüdischen Familie, die aus dem galizischen Stetl nach Wien und Polen auswandert, wo ein Teil dem Holocaust zum Opfer fällt und letztendlich Tea Erdheim als letztes Glied übrig bleibt und nach dem Ende des zweiten Weltkrieges ihre Tochter Claudia zur Welt bringt. Dieser Roman, mit dem Claudia Erdheim allein durch seine Länge, aber auch durch die historiographische Dimension und vor allem durch die wechselnden Blickpunkte der auktorialen Erzählerinnenstimme ästhetisch neues Terrain beschritten hat, schließt ideell an ihr bisheriges Werk an. Ich habe mit Befriedigung festgestellt, dass sie für das Textbeispiel in diesem Heft eine Stelle ausgewählt hat, die ich zitieren wollte. Und zwar jene, als in einer Erdölgrube von Moses Hersch die Leiche eines Arbeiter entdeckt wird. Allein die präzise Darstellung dieses – fiktiven - Geschehnisses impliziert bei aller Berücksichtigung der dazugehörenden Sachzwänge Kritik an Ausbeutungsverhältnissen. Der Weichzeichner kommt auch bei diesem Buch nicht zur Anwendung.

Als ich Claudia Erdheim kennen gelernt habe, habe ich mich in meiner eigenen Arbeit noch ganz auf Lyrik beschränkt und sie sagte mir glatt: „Da kann ich dir nix dazu sagen. Das ist nicht mein Metier.“ Claudia Erdheim reist, forscht, unterrichtet, schreibt Romane, Erzählungen und Essays, fotografiert und organisiert, aber eines tut sie nicht: Gedichte schreiben. Und weil sich der Vorstand des Podium einmal darauf festgelegt hat, dass die Porträt-Bände der Lyrik vorbehalten sind, wollen wir ihr auf diese Art im Herbst-Heft 2010 ein Dankeschön für ihre lange, engagierte und andauernde Mitarbeit ausdrücken.

Ich kann nur vermuten wie Claudia diesen Umstand kommentieren wird: „ничего“ („Zu den unübersetzbaren Wörtern des Russischen gehört „nitschewo“. Eigentlich heißt es einfach „nichts“. Aber es kann die Bedeutung von „mach dir nichts draus“, „schon gut“, „spielt keine Rolle“, „so la la“ annehmen …“ schrieb Thomas Rothschild im Vorjahr im Kulturmagazin titel.)

Diese Redewendung habe ich oft von ihr gehört. Sie bewahrt ihre Kritik vor der Rechthaberei.

1 Claudia Erdheim: Karlis Ferien, Löcker Verlag , Wien 1994, S 57 ff

Montag, 20. Juli 2009

Das Cervicalsyndrom

Das ist jetzt das Ende. 63 bin ich geworden. Nicht besonders alt. Gott sei dank war ich noch in Amerika. Ich kann den Kopf nicht heben. Ich bin schwindlig, mir ist totenschlecht. Vielleicht ist die Maria da. Gott sei dank, sie ist zu Hause. Sie kommt gleich runter. Sie hat Schlüssel. Man muss die Rettung anrufen, ich muss ins Spital. Ich zitter am ganzen Körper. Kann es nicht abstellen. Die Maria fährt mit. Die Kinder sind in der Schule. Sie hat Zeit. Pack, bitte, den Rucksack. Das Buch steck, bitte, ein. Mit der Rettung kommt ein Arzt. Die Maria wird es entsprechend dramatisch geschildert haben. Blutdruck wird gemessen. Natürlich. Das ist immer das erste. Das muss sein. Er ist eh ganz normal. Blutabnahme am Finger. Kein Zucker. Ab ins Spital. In mein Schlafimmer kommt man nicht mit einem Bett. Ich kann nicht aufstehen. Kann den Kopf nicht heben. Es ist schrecklich. Sie kommen mit einem Sessel mit hoher Lehne. Ich komm nicht hoch. Sie ziehen mich an den Händen. So ein Stuß. Ich hab ja nichts in den Füßen. Es ist der Kopf. Ich bitte, dass man den Kopf hält. Komme hoch, in den Sessel, Kopf angelehnt. Zu Maria: zieh mir, bitte, Schuhe an. Nimm, bitte, den Mantel und den Rucksack. Sie tragen mich mit dem Sessel hinunter. Es geht ins Wilheminenspital. Auf die Interne. Keine Ahnung, wieso Interne. Aufs Bett legen. Das ist wieder ganz schrecklich. Noch einmal Blutabnahme. Intern fehlt mir wohl nichts. Mir ist entsetzlich schlecht. Ein Neurologe muss hinzugezogen werden. Warten. Ich zitter noch immer. Die Maria soll nach Hause gehen. Es hat ja keinen Sinn, da zu sitzen. Sie muss jetzt sowieso gehen, weil die Kinder von der Schule kommen. Nach drei Stunden kommt endlich die Neurologin. Untersuchung im Liegen. Nix. Ich hab nichts Neurologisches. Ich war eh unlängst bei einem Neurologen, weil ich schon seit zwei Monaten schwindlig bin und beim Gehen schwanke. Der hat gesagt: So einen gesunden Menschen wie Sie hab ich schon lange nicht gesehen. Und: Es gibt keinen Schwindel von der Wirbelsäule. Aufstehen. Ich kann nicht aufstehen. Die Ärztin hilft mir auf. Aber der Kopf. Ich schrei. Wenn man Sie nicht untersuchen kann, müssen Sie hier bleiben. Gut. Man wird sicher eine MRT machen. Das wollte ich eh schon die ganze Zeit. Ich werde in ein Zimmer gekarrt. 5 Bett Zimmer. Ich merk eh nichts. Wenigstens ist der Pfleger gefühlvoll. Schubst mich von der Bahre direkt aufs Bett. Kein Schwein kümmert sich um mich. Keine Infusion. Nix. Das Zittern hat aufgehört. Aber den Kopf kann ich immer noch nicht heben. Eine Turnusärztin kommt und will die Anamnese machen. Blutjung, vielleicht 26. Die üblichen Fragen. Dann fragt sie: was haben wir für eine Jahreszeit. Jetzt bin ich aber empört. Glaubt sie, ich bin dement? Bitte, wenn Sie das genau wissen wollen: Spätherbst. Und jetzt werden Sie mich gleich fragen, wie viele Türme der Stephansdom hat. Sie schaut völlig irritiert. Das weiß ich nicht, sagt sie ganz erschrocken. Einen, belehr ich sie. Die Frage hab ich von meinen Recherchen für mein letztes Buch. Da hab ich so viele medizinische Bücher gewälzt. Und einmal bin ich auf eine Liste mit Fragen gestoßen, die man Schwachsinnigen stellt. Ich hab Hunger. Eine Schwester bringt mir zwei Butterbrote in Streifen geschnitten. Und Wasser in einem Schnabelhäferl. Das geht alles im Liegen. Um 7 am Abend kommt endlich die Dienst habende Ärztin. Es ging früher nicht. Es ist jemand gestorben. Sie haben eine Neuronitis vestibularis. Was ist das? Eine Entzündung des Gleichgewichtsnervs. Woher kommt das? Das wissen wir nicht. Kann verschiedene Ursachen haben. Sie bekommen Cortison und was gegen den Schwindel. Also nichts Gefährliches. Endlich schlaf ich ein. Um zwei in der Nacht wach ich auf. Es ist alles weg, ich geh aufs Klo. Eine Patientin schreit: I wü an Kaffee. Mit an Stickl Zucker. Eine andere Patientin schreit Ruhe. Am nächsten Tag geschieht gar nichts. Ich muss auf einen Termin für eine MRT warten. Morgen wahrscheinlich. In dem Zimmer liegen lauter Greise. Die eine ist offenbar dement. Sie schreit schon wieder: I wü an Kaffee. Sie hat offenbar eine gebrochene Schulter. Eine dicke Schwester schubst sie ganz grob hin und her. Die Patientin schreit vor Schmerz. Die Schwester brüllt sie an. So ein Arschloch diese Schwester. Wie gibt’s das? Wenn sie diesen Job nicht mag, wieso ist sie dann Krankenschwester geworden?
Ich frag nach einem Privatzimmer. Sie legen mich in ein Dreibettzimmer. Ist schon angenehmer. Eine Patientin ist ein bisschen älter als ich, die andere Ende 40. Ich hab keine Lust mich zu unterhalten. Gott sei dank hab ich zu Lesen. Eine Biographie von Walter Rathenau. Schlecht, aber trotzdem ganz interessant. Vielleicht kann der Franz vorbeikommen und mir das Buch vom Beppo bringen. Die jüngere Patientin hat Rheuma, ganz schwer. Sie kommt aus dem Burgenland. Sie ist schon zwei Wochen da. Wos i scho Medikamente g’nummen hob. Nix hüft. Ihr Vater ist gerade gestorben. Eine Psychologin war bei ihr. Sie hat am Nachtkastel ein Buch liegen. Leben nach dem Tod. Da hat der Arzt bei der Visite gefragt, ob sie sich umbringen will. I wü mi net wegrama. Mei Vater is g’storben. Ist die Psychologin gekommen. Hat sie mich auch g’fragt, ob i mi umbringen will. I wü mi aber net wegrama, mei Vater is g’storben. Nur wei i des Buach am Nachkastl liegen hab. Aber mei Vater is g’sturben. Da ham’s ma a Medikament geben. Seroquel. Sie redet ein bisschen viel. Aber die Geschichte ist auch lustig. Am nächsten Tag bei der Visite fragt der Arzt, ob ihr das Medikament geholfen hat. Sie hat es aber erst einmal genommen. Sie weiß nicht, ob es ihr geholfen hat. Sie glaubt nicht, dann nehmen Sie es nicht mehr. Weg sind sie die Ärzte. Die vülen Medikament, die nutzen ja eh nix. I wü mi net wegrama. Da schickn’s ma die Psychologin. Mei Vater is g’storben. Jetzt reicht es mir. Ich will lesen. Aber die Geschichte ist einfach gut. Am nächsten Tag geht’s zum MRT. Mir geht es leidlich. Nicht schlecht, aber beim Gehen schwanke ich wieder. Hat ganz leicht begonnen und ist immer stärker geworden. Manchmal tut mir der Schädelknochen weh, manchmal bis zur Nase. Meine alte TCM Ärztin hat geglaubt, es ist die Leber. Bin ich erschrocken. Die Leber ist aber ganz in Ordnung. Ich setz mich ein bisschen am Gang. Da prüft gerade jemand die Alte, die immer nach einem Kaffee geschrieen hat, auf Demenz. Sagen Sie mir eine Wiesenblume mit B. Primel, sagt die Alte. Das schreibt man aber mit P. I schreib’s mit B. Sie sagt das wie die Volksschulkinder. Nicht P, sondern so wie der Buchstabe im Wort ausgesprochen wird. Noch einmal. Eine Wiesenblume mit B. Butter ... Die Alte sagt wieder Primel.
Kein Tumor. Das hab ich mir eh schon gedacht. Aber ich schwanke beim Gehen und so ganz gut ist mir auch nicht. Wenn ich schon hier bin, soll auch noch eine MRT von der Wirbelsäule gemacht werden. Da muss man aber warten. Muss ich noch zwei Tage hier bleiben. Gemütlich ist es hier nicht und das Essen ist scheußlich. Typischer Spitalsschlangenfraß. Der Befund vom MRT ist noch nicht da. Ich kann nach Hause und soll nächste Woche anrufen. Ich bin nervös. Wenn ich irgendetwas an der Wirbelsäule habe. Ich fahr mit dem Taxi nach Hause. Mir ist nicht besonders gut. Ich schreib meiner TCM Ärztin ein Email, was im Spital war. Sie muss passen. Das kann sie auch nicht behandeln. Sie empfiehlt mir eine Ärztin für Homöopathie. Im Befund des Wirbelsäulen MRT steht, leichter Bandscheibenvorfall. Aber davon kommt der Schwindel nicht. Ich brauch einen anständigen Arzt. Ruf ich die Emmy Pappenheim an, die kennt die besten Ärzte von Wien. Der Primarius Müller in der Wiener Privatklinik, der ist eine Koryphäe. Vier Wochen Wartezeit. Eventuell kann er mich einschieben. Er ruft zurück. Blöderweise bin ich gerade auf der Post, viele Leute. Er schiebt mich nicht ein, wenn ich weggehen kann. Er empfiehlt mir einen Ersatz. Die Homöopathin verschreibt mir ein paar Tropfen. Eine ganz nette Person, aber ob das was hilft. Egal, alles ausprobieren. In zehn Tagen soll ich anrufen. Termin beim Orthopäden vom Helmut. Fahre mit der Straßenbahn, aber es geht mir nicht gut. Die Halswirbelsäule sendet Signale an das Gleichgewichtsorgan und wenn das gestört ist, ist man schwindlig. Der Neurologe, bei dem ich schon vor meinem Spitalsaufenthalt war, hat gesagt, von der Wirbelsäule kann man nicht schwindlig werden. So ein Tepp. Wenn es nicht gut wird, soll ich mich nach Speysing auf die Orthopädie legen, sie haben gute Erfolge, sagt der Orthopäde vom Helmut. Jetzt brauch ich einmal eine Physiotherapie. Die Wagner, die praktische Ärztin bei mir in der Nähe, empfiehlt den Hormayer bei mir im Haus. Der soll hervorragend sein. Schau ma einmal. Er zieht ein bisschen am Kopf. Weiss nicht. Blass bin ich die ganze Zeit. Schon seit das Schwanken das erste Mal aufgetreten ist. Blasser als sonst. Die Ärztin, die Empfehlung von der Koryphäe, die auch Osteopathie macht, schiebt mich ein. Habe darauf gedrängt, weil ich so schwindlig bin. Sie nimmt das nicht so tragisch. Das Zungenbein ist irgendwie verschoben. Ob ich in der Nacht mit den Zähnen knirsche. Ich soll in der Nacht eine Zahnschiene tragen. Die Homöopathie nützt nichts. Sie verschreibt mir wieder Tropfen. Der Helmut empfiehlt mir einen Arzt, der Neuraltherapie macht. Ich kann gleich kommen. Der erste Termin wird als Notbehandlung auf Kasse bezahlt. Er ist streng. Lässt einen nicht erzählen. Fragt gezielt in einer etwas strengen Art. Dabei erzähl ich doch eh immer so gezielt. Wahrscheinlich will er nicht, dass die Patienten lang und breit herumschätzen. Er spritzt ein bisschen. Das nächste Mal nimmt er es dann ernsthaft in Angriff. Es gibt Patienten, die simulieren und solche, die Dissimulieren. Sie gehören zu denen, die dissimulieren. Da hat er recht. Er will sehen, wie ich die Behandlung vertrage. Ich fahr mit der Straßenbahn nach Hause. Aber besonders gut ist mir nicht. Die Behandlung hat gar keine Wirkung. Donnerstag vor Weihnachten die nächste Behandlung. Die Blinddarmnarbe ist angeblich an allem schuld. Er spritzt ganz viel. Ich fahr mit der U Bahn nach Hause. Und dann wird mir schlecht. Der Helmut ist Gott sei dank da. Paspertin. Bringt mir Zwieback und Apfelmus. Mir ist ganz entsetzlich schlecht, aber anders als sonst. Nach zwei Tagen ist es besser. Am Montag nach Weihnachten ruf ich den Doktor an, dass mir so schlecht war. Das kann passieren, da hat er zuviel gespritzt. Wenn ich will, kann ich trotzdem kommen, er wird es weiter probieren. Ich fühl mich nicht besonders. Vor Neujahr soll ich noch einen Termin bei der Ärztin haben. Bekomm ich einen Anruf, der Termin muss abgesagt werden, sie muss sofort an den Bandscheiben operiert werden. So ein Schas. Ruf ich in der Privatklinik an, ob die jemanden wissen. Ja, eine Ärztin. Ich kann am 9. Jänner kommen. Wieder zum Doktor mit der Neuraltherapie. Er wird versuchen, mich zu behandeln. Er verlangt vorläufig nichts, erst, wenn es was hilft. Das ist ja toll. Die Ärztin in der Privatklinik macht auch Osteopathie, so wie die mit dem Bandscheibenvorfall und der Primarius. Mir geht’s nicht gut, ich muss mit dem Taxi fahren. Mir geht’s immer schlechter. Sie drückt ein bisschen auf die Brust. Angeblich knackst es, ich hör nichts. Blockaden. Es wird schon besser werden. In 14 Tagen soll ich wieder kommen. Ich fahr mit dem Taxi nach Hause. Anruf von der Ruth. Beim Tschibo gibt es einen faltbaren Stock, ob sie den für mich kaufen soll. Super. Ein Stock ist sicher eine Stütze beim Gehen. Es geht mir nicht gut. Liege die ganze Zeit. Manchmal ist mir ganz entsetzlich schlecht. Der Physiotherapeut hilft manchmal ein bisschen, aber nicht wirklich. Mir ist wieder sehr schlecht. Um 12 Uhr Termin beim Neuraltherapeuten. Wie komm ich da hin, wenn mir so schlecht ist. Ich kann kaum aufstehen. Mit dem Taxi natürlich. Trotzdem. Er merkt, dass es mir sehr schlecht geht. Warum haben Sie nicht angerufen, wenn Ihnen so schlecht ist? Er ist sehr nett und verständnisvoll. Spritzt in den Nacken und in den Kopf. Das lähmt ein bisschen die Muskulatur, kann ein Auge nicht schließen. Er meint, das vergeht schon. Aber dem Kopf geht’s nicht gut. Mit dem Taxi nach Hause. Jetzt hab ich endlich auch einen Stock. Die Spritze im Kopf war nicht gut, es tut mir weh. Der Schädelknochen tut mir auch weh. Ich kann kaum mehr gehen, schwanke arg. Wieder Termin bei der Ärztin in der Privatklinik. Sie holt mich vom Wartezimmer. Ich muss ein Stück gehen, sie geht hinter mir. Sie fängt gleich an: „So wie Sie gehen, müssen Sie ins Spital“. Hm. Sie müssen nicht, aber es wäre besser. Neurologisch ist nichts. Und die MRT war auch negativ. Sie glaubt trotzdem, dass es was Neurologisches ist. Sie arbeitet im Marta-Maria Spital und dort ist ein ausgezeichneter Neurologe. Professor Klein. Was kann es denn sein? Vielleicht ein Meningiom. Mir fällt das Gesicht runter. Heutzutage ist das ja alles nicht mehr so. Es kann auch eine Autoimmunerkrankung sein. Sie weiß es nicht. Ich soll ins Spital gehen. Gut, wenn sie es sagt. Gleich Montag früh. Sie kümmert sich um ein Zimmer und ruft mich Montag früh an. Ein Meningiom. Ich schau gar nicht nach, was das ist. Es ist sicher etwas ganz Schreckliches. Aber ich bin doch neurologisch untersucht worden und die MRT war auch negativ. Was weiß ich. Vielleicht hat man im Wilheminenspital auf dem MRT was übersehen. Wie bring ich das Wochenende über die Runden. An einem Meningiom stirbt man sicher. Sie hat gesagt, heutzutage ist das nicht mehr so. 90% der Brustkrebse kann man schon heilen. Erstens stimmt das wahrscheinlich so auch nicht. Und wie ist das bei einem Meningiom. Nur nicht nachlesen, sonst schnapp ich über. Mir ist wirklich schlecht. Sitzen kann ich überhaupt nicht, nur liegen. Sogar in der Wohnung geh ich schlecht. Muss mich anhalten, weil ich so schwanke. Der Schädelknochen tut mir weh. Und der Nacken. Vielleicht ist es eine Meningitis. Aber das hätten sie im Wilheminenspital bemerkt. Haare waschen tu ich gar nicht mehr. Egal, sind sie halt dreckig. Ich will schon Sonntag Abend ins Spital fahren. In der Früh ist mir immer besonders schlecht. Der Franz hat gesagt, er bringt mich mit dem Auto hin. Ich kann ja keinen Koffer tragen oder ziehen. Ich ruf im Spital an, es geht, ich kann kommen. Langsam pack ich den Koffer, leg immer nur ein bisserl was rein. Dann muss ich mich wieder hinlegen. Es ist nur ein Bett im Schlaflabor frei. Das ist eh super. Da bin ich allein im Zimmer. Es gibt noch ein Nachtmahl. Macht keinen besonderen Eindruck. Eine junge Ärztin untersucht mich neurologisch. Das kenn ich schon. Es ist alles in Ordnung. Wird schon kein Meningiom sein. Aber was hab ich? Wieso kann ich nicht gehen. Eine Turnusärztin macht wieder Anamnase. Wenigstens fragt sie mich nicht, was für eine Jahreszeit wir haben. Am nächsten Tag ruft mich die Ärztin an, sie hat ein Zimmer für mich. Sie weiß nicht, dass ich schon hier bin. Es geschieht einmal gar nichts. Kein Arzt kommt. Gegen Mittag komm ich dann zur Physiotherapie. Es gibt Massagen und die Frau Doktor lockert Blockaden und zieht ein bisschen am Kopf. Wieder zurück im Zimmer. Kein Doktor war noch da. Endlich um ½ 4 kommt der Professor. Er untersucht mich wieder neurologisch. Nix. Dann stellt er Fragen. Schwäbelt. Haben Sie Ängste, haben Sie Depressionen. Nein, schrei ich fast. So ein Tepp. Ich kann nicht gehen und er fragt mich so einen Scheiß. Vielleicht glaubt er, ich hab eine hysterische Gehstörung. Aber das kennt er wahrscheinlich gar nicht. Auf Psychisch reduzieren. Das hab ich schon g’fressen. Entweder es kommt von der Wirbelsäule. Er erzählt mir das auch von den Signalen, die die Wirbelsäule an das Gleichgewichtsorgan sendet. Das hat man früher nicht gewußt. Oder es ist ein phobischer Schwankschwindel. Das könnte es auch sein. So ein Blödsinn. Zur Sicherheit, falls es das ist, bekomme ich Glückshormon. Ich hab sicher keinen phobischen Schwankschwindel. Das hat man, wenn man einmal schwindlig war, dann kommt das sozusagen phobisch wieder. Blödsinn. Alle meine Befunde vom Wilheminenspital hab ich ihm gegeben. CD von den MRTs. Er wird es sich anschauen. Sie sind Schriftstellerin. Ja. Zu Weihnachten hab ich ein Buch bekommen. Ich hab vergessen, wie der Autor heißt. Über Barcelona. Am nächsten Tag wieder Physiotherapie. Wenigstens ist das Essen hier besser als im Wilheminenspital. Aber nicht umwerfend. Immer der allerschlechteste Essig. Man kann es essen. Um ½ 4 kommt wieder der Professor. Die CD hat er noch nicht angeschaut. Depression haben Sie keine. Immerhin ist er jetzt zu diesem Schluss gekommen. Der weiß doch gar nicht, was eine Depression ist. Aber unbewusste Angst. Unbewusst. Blödmann. Der weiß doch gar nichts von mir. Der hat sicher von Psychoanalyse keine Ahnung. Unbewusste Angst. Das hat er jetzt schon ein paar Mal wiederholt. Idiot. Ich kenn mich wohl besser als er mich. Ich weiß selbst, ob ich Angst habe oder nicht. Ich weiß selbst, ob ein Leiden von mir psychisch ist oder nicht. Dieses ist es jedenfalls nicht. Das übelste ist, wenn einem die Ärzte einreden, es ist alles psychisch. Auf den Kopf zusagen, ohne irgendeine Ahnung zu haben, wen man vor sich hat. Das ist sooo gefährlich. Außerdem hat ein gewöhnlicher Arzt keine Ahnung von der menschlichen Seele. Und dieser Kerl weiß auch nicht, dass ich sieben Jahre in Therapie war und dass ich sehr wohl weiß, ob mein Leiden psychisch ist oder nicht. Er lässt einen auch gar nicht zu Wort kommen. Fährt so drüber. Er weiß das: Unbewusste Angst. Der Kerl hat sicher keine einzige Zeile Freud gelesen. Aber von unbewußter Angst faseln. Aus unbewusster Angst kann ich nicht gehen. So ein Schwachsinn. Ich hab einmal einen Patienten gehabt, der war ganz schief. Der ist immer im Hof im Kreis gelaufen, bis er gerade war. Der war aber kein Intellektueller. Ist aber jeden Tag im Hof hier gelaufen. Das soll ich jetzt auch machen, was? Solange laufen, bis ich wieder gehen kann. Tepp. Was macht denn hier der Stock? Damit ich besser gehen kann. Er macht ein ganz entsetztes Gesicht. Als ob ich völlig übergeschnappt wäre, weil ich mit Stock gehe. Als ob ich ein Hypochonder wäre. Dabei hat der eine Arzt gesagt, ich dissimuliere. Der hat jedenfalls mehr psychologisches Verständnis gehabt als der Herr Professor, der Neurologe. Er weiß ja gar nicht, wie schlecht ich gehe. Die CD hat er auch noch nicht angeschaut. Das ist ja nicht wichtig, es ist eh nur unbewusste Angst. Ich ruf die Emmy Pappenheim an und frag sie, ob sie den Professor kennt. Nein, kennt sie nicht, sie wird sich erkundigen. Er soll gut sein. Sie hat für mich einen Termin beim Primarius Müller ausgemacht. In drei Wochen. Gut. Am nächsten Tag wieder Massage und Osteopathie. Zu Mittag frag ich, was das für ein Medikament ist. Hab es in der früh nicht genommen. Das ist das Glückshormon. Aha. Das nehm ich jetzt. ½ 2, die Bertha ist gerade gekommen. Ich geh mit ihr raus. Wir können vielleicht in die Cafeteria gehen. Da kommt der Professor, er will gerade zu mir. Ich geh in mein Zimmer und sag zu ihm: Jetzt sehen Sie einmal, wie ich gehe. Er schaut so und sagt: Da müssen wir gleich noch einmal untersuchen, damit wir nichts übersehen. Er schmeißt mich hin und her. Nicht sehr angenehm. Noch einmal. Nicht sehr angenehm. Er findet nichts. Er geht. Die Bertha will in die Cafeteria. Sie hat noch nichts gegessen. Eigentlich kann ich nicht so gut gehen. Sie geht relativ schnell. Muss ich mich einhängen. Oi je, es ist verraucht. Mir wird schlecht. Sie holt ein Wagerl und führt mich aufs Zimmer. Kaum bin ich oben, speib ich. Man muss den Professor holen. Eine Ärztin kommt, der Professor kann nicht. Ein bisschen später kommt er dann doch. Dann sag ich ihm aber: Sie haben mir ja nicht geglaubt. Sagt er: ja, die Frau Doktor hat gesagt, es ist untypisch. Sehr witzig. Der hat er aber nicht geglaubt. Denkt seinen eigenen Scheißdreck von der unbewussten Angst. Sie hängen mir eine Infusion an: Vertirosan gegen Schwindel. Ich glaub, mir ist so schlecht vom Glückshormon. Am nächsten Tag ist mir immer noch schlecht. So kann ich unmöglich zur Physiotherapie gehen. Dafür karren sie mich zur HNO. Das wurde eh schon alles untersucht. Mir ist so schlecht. Wieder zurück, wieder Infusionen. Nachmittag kommt die Anna. Es hat gar keinen Sinn. Ich kann mich nicht unterhalten. Sie geht wieder. Dem Peter muss ich auch absagen. Es ist schrecklich. Ich glaub, mir wird auf die Infusionen noch schlechter. Wer weiß, was da drinnen ist. Die Frau Doktor von der Physiotherapie schickt mir jemanden zur Fußsohlenreflexbehandlung. Daraufhin wird mir auch nur noch schlechter. Das ist ja fürchterlich. Jedenfalls ist mir jetzt noch schlechter als zuvor. Am Samstag muss ich in ein Zweibettzimmer übersiedeln. Ich will aber hier bleiben. Das geht nicht. Außerdem ist es in dem anderen Zimmer viel schöner, sagt die Schwester. Da gibt es einen Balkon. Die Schwestern helfen mir. Packen meinen Koffer und karren mich dann hinauf. Ein altes Weiberl ist im Zimmer. Sie ist schon drei Wochen da, hat eine Bronchitis. Mhm. Wahrscheinlich kann sie zu Hause nicht gepflegt werden. Erträglich. Nachmittag kommt Ingeli und der Franz. Wir gehen Café trinken. Plötzlich wird mir schlecht. Zurück zwischen den beiden. Oh Gott. Mir ist schlecht. Ich will jetzt keine Infusion mehr. Das macht das alles noch schlimmer. Sonntag geht’s mir endlich besser. Montag kann ich schon ohne Wagerl zur Physiotherapie gehen, aber in Begleitung des Zivi. Der Professor ist auf Urlaub. Das ist sehr angenehm. Kommt so ein jüngerer, flotter Arzt. Halblanges Haar, flotte Brille, orangefarbene Crocs. Jedenfalls ist er angenehmer als der Herr Professor. Auf dem Nachtkastel hab ich ein riesiges Radio stehen, mit CD Player usw. Das hat mir die Brigitte durch ihren Freund geschickt. Damit können Sie ja eine ganz Party geben. Ist mir eh peinlich. Aber es war nett gemeint von der Brigitte, weil es hier keine Kopfhörer gibt. Sie ist ja immer gleich so rege. Da hat sie mir gleich das Buch von der Lewycka per Post ins Spital geschickt. Und durch ihre Mutter hat sie mir eine Kopfrolle schicken lassen, weil ich so schlecht liegen kann, weil mir der Schädelknochen so weh tut. Wirklich sehr nett. Nur ist die Rolle zu hart für meinen armen Schädel. Ingeli kommt jeden Tag und macht Reki. Sie ist davon überzeugt, dass das hilft, zumindest erleichtert oder die Genesung beschleunigt. Ich weiß nicht. Ich zahl ihr ein bisserl was dafür. Sie braucht das Geld für Ihre Ausstellung, das motiviert sie, zu kommen. Immer bringt sie was Süßes mit und dann frisst sie auch noch mein Nachtmahl. Bei der Frau Doktor in der Physiotherapie beschwer ich mich über den Professor. Ich soll nicht mit dem Stock gehen und es ist alles psychisch. Aber der Professor ist so gut. Daran hab ich meine Zweifel. Aber lachend sagt sie: Mit dem Stock können Sie ruhig gehen. Aber mir geht es besser. Ich kann schon ein bisschen gehen. Jetzt muss ich auch Gymnastik machen. Die Physiotherapeutin ist unsympathisch. Ein junges Mäderl. Ein bisschen streng. Bei der war ich schon vorher. Sie verlangt für eine Dreiviertelstunde 60 Euro, aber davon zieht sie 10 Minuten ab, weil sie den Krankenbericht schreiben muss. Das ist stark. Mir geht es besser. Ich kann schon ganz gut gehen. Der Schädelknochen tut wieder plötzlich stark weh. Die Frau Doktor sagt, das kommt vom Atlas. Der muss eingerenkt werden. Summa summarum geht es mir ganz gut. Am Sonntag wird mir plötzlich schlecht, ein flaues Gefühl im Magen. Was das jetzt ist. Die Frau Doktor meint, das ist vegetativ. Ob mir auch heiß ist. Ja. Sie will 24 Stunden Blutdruck messen lassen. Da bekommt man ein Gerät umgehängt, das jede Viertelstunde misst. Am Abend plötzlich pumpt es auf und pumpt auf und hört nicht auf. Der Arm stirbt ja ab. Ich reiß die Manschette runter. Das Gerät ist kaputt. Wenn das im Schlaf passiert. Da kann man vielleicht sterben, wenn der Arm abstirbt. Eine Ärztin kommt und glaubt, ich hab vielleicht so einen hohen Blutdruck, weil es nicht aufhört zu pumpen. Ärzte. Aber so gut wie vor ein paar Tagen, ist mir nicht mehr. Immer wieder flau, Hitze, der Kopf tut weh, ein bisserl Übelkeit. Jetzt hab ich eine neue Mitpatientin. Magenkrebs, sie bekommt Chemotherapie. Schaut schon wie eine Leiche aus. Meine Freunde schrecken sich. Sie können sie gar nicht anschauen. Wir gehen dann immer schnell raus. Einer der Ärzte dieser Patientin fragt mich, ob ich alle diese Bücher auf einmal lese. Weil ich einen Stoß Bücher am Nachtkastel liegen habe. Eine andere hat mich einmal gefragt, wie lange ich für so ein Buch brauche. Das war von der Hamann „Hitlers Edeljude“, 500 Seiten. Hab ich gesagt: Drei Tage. Ärzte sind halt illiterate Menschen. Der Professor meint, ich soll nach Hause gehen. Ambulant weiter machen. Aber mir ist nicht gut. Es ist Zeit nach Hause zu gehen. Ich bin schon drei Wochen im Spital, aber von einer merklichen Besserung kann keine Rede sein. Ich soll ihm zeigen, wie ich gehe. Ich geh ein bisserl, aber sehr langsam. Schneller. Ich kann nicht schneller. Schneller. Wie er das sagt. So ein Ekel. Dem seine Eltern waren sicher Nazis. Ich soll Nordic Walking. Das kann ich doch nicht in dem Zustand. Idiot. Er glaubt, ich lass mich gehen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich soll nicht die ganze Zeit lesen. Blödmann. Der Kerl hat doch keine Ahnung von meiner Krankheit. Der ist doch Neurologe. Der kennt doch das Leiden gar nicht. Ich beschwer mich auch bei der Ärztin, die Akupunktur macht, über den Professor. Ein liebes junges Mädchen. Nimmt den Professor voll in Schutz. Er ist väterlich. Von wegen. Ich bin eine alte Schachtel, könnte schon Großmutter sein. Ich brauch keinen Vater. Außerdem ist er ein Ekel und kein lieber Papa. Am Freitag kommt Gott sei Dank der flotte Typ. Beschwer ich mich bei ihm, dass mich der Professor rausschmeißen will. Bei der Ärztin von der Physiotherapie beschwer ich mich auch. Sie haben keine Ambulanz. Ich könnte höchstens gelegentlich einmal kommen. Und überhaupt geht sie jetzt auf Urlaub. Das ist eine Katastrophe. Das ist das einzige, was hilft. Da hat es ja wirklich keinen Sinn, da zu bleiben. Am Montag kommt der Professor, druckst so herum. Wahrscheinlich hat man ihm gesagt, dass ich mich beschwert habe, dass er mich rausschmeißen will. Da ist ihm wahrscheinlich klar geworden, dass man mit Privatpatienten so nicht umgeht. Aber es hat wirklich keinen Sinn im Spital zu bleiben, wenn die Ärztin nicht da ist. Dann geh ich eben nach Hause. Kommt der Professor noch einmal. Wir verabschieden uns. Nicht die ganze Zeit lesen. Tepp. In den Patentenbrief hat er auch phobischer Schwankschwindel geschrieben, aber nicht als Alternative, sondern als Diagnose. Cervicalsyndrom und phobischer Schwankschwindel. Aber ich hab keinen phobischen Schwankschwindel. Der ist wirklich ein Tepp, dieser Herrr Professor. Am Montag ist die Frau Doktor wieder da. Ich ruf in der Früh gleich an, ich kann kommen. Mir ist nicht gut. In zwei Tagen hab ich den Termin beim Primarius, bei der Koryphäe. Ich sag der Frau Doktor, dass ich noch eine intensive Behandlung brauche. Auf keinen Fall noch einmal zu diesem Professor. Die Frau Doktor hat wenigstens Verständnis. Sie ist eh sehr nett. Ende 40, zwei Kinder, vielleicht geschieden. Darüber spricht sie nicht. Aber wenn man jeden Tag behandelt wird, unterhält man sich halt ein bisschen. Ich erzähl ihr, dass ich einen Termin bei der Koryphäe hab. Sie meint, das ist sehr gut, sie wird ihn gleich anrufen. Er soll mich in der Privatklinik aufnehmen.
Der Primarius untersucht mich, behandelt mich ein bisschen und nimmt mich auf. Wie lange wird es noch dauern. Zwischen zwei Wochen und drei Monaten. Er meint, ich soll zehn Tage ins Spital. Drei Mal wird er mich behandeln, ansonsten bekomm ich Massagen und Physiotherapie. Er spricht nicht viel. Offenbar kein Mann des Wortes. Eine ganz angenehme Zimmernachbarin. In meinem Alter, hüftoperiert. Plaudert ein bisschen, aber nicht übermäßig. Sie fragt mich, wie viel Kilo Bücher ich im Jahr lese, weil ich die ganze Zeit lese. Aber was soll ich denn sonst machen? Das Essen ist erstaunlich gut. Fünf Mahlzeiten, Jause mit Kuchen. Sie verwenden auch aceto balsamico. Hier geht das ja. Wieso nicht in anderen Spitälern. Die Physiotherapie ist nicht besonders. Wieso behandelt mich kein Arzt wie im Marta-Maria Spital. Ich beschwer mich beim Primarius. Er behandelt mich eh drei Mal, das darf man nicht zu oft machen. Seit Montag behandelt mich eine gute Physiotherapeutin. Sie macht Osteopathie, hält den Kopf mit den Fingern, das tut ein bisschen weh, erleichtert aber. Massage erleichtert auch ein bisschen. Ich klage, dass mir im Liegen der Kopf immer weh tut, der Knochen tut weh. Die Masseurin fragt mich, wie ich liege. Ich zeig ihr das, eingerollt, Babyhaltung. Sagt sie: wer unterdrückt sie so? Das ist stark. Ungeheuerlich! Was glaubt die? So eine blöde Masseurin gibt mir eine Deutung. Das verbitte ich mir aber. Ich schnauz sie ein bisschen an, sie kuscht. Mir geht es Sosolala. Ich geh ganz gut, der Schädel tut nach wie vor weh. Manchmal hab ich das Gefühl, er platzt mir. Ich kann auch schon eine Weile sitzen. Manchmal länger, manchmal kürzer. Entlassung. Ich bin alles andere als gesund. Wie wird das weiter gehen. Die drei Monate sind ja noch nicht rum. In zwei Wochen Termin beim Primarius. Der Frau Doktor vom Marta-Maria Spital schick ich mein erstes und mein letztes Buch. Sie hat gesagt, dass sie in den Ferien immer liest. Und ein Brieferl dazu, wie’s mir geht. Ich geh wieder zur Homöopathin. Vielleicht hat sie ja was gegen diese blöde vegetative Störung. Obwohl bis jetzt nichts geholfen hat. Der Primarius sagt, ein Wirbel drückt gegen den Sympathicus. Die Homöopathin erzählt mir von Laserblutbestrahlung. Hm. Wenn es hilft. Sie gibt mir einen Prospekt mit. Da steht auch was von Laserakupunktur bei Wirbelsäulenerkrankungen. Das ist vielleicht eher was für mich. Sag ich ihr das. Gut, findet sie auch. Machen wir. Alles ausprobieren. Mit der Straßenbahn kann ich nicht fahren, trotz Stock. Ich schwanke und besonders gut ist mir auch nicht. Die Homöopathin ist auf Urlaub. Ich soll ihre Kollegin anrufen zwecks weiterer Behandlung der Laserakupuntur. Das ist eine Gemeinschaftspraxis. Die neue Ärztin macht TCM. Sie kann auch nadeln. Gut, soll sie. Vielleicht hilft es ja. Der Laserduschkopf im Nacken erleichtert ein bisschen. Alles erleichtert kurz ein bisschen und dann kommt alles wieder. Vielleicht doch diese Laserblutbestrahlung. Ausprobieren. Kostet zwar viel, aber das ist jetzt auch wurscht. Vielleicht kann ich zur Physiotherapeutin in der Privatklinik gehen. Das war ganz gut, was die gemacht hat. Hat auch immer ein bisschen erleichtert. Der Primarius ist einverstanden. Jetzt bin ich voll beschäftigt. Laserakupunktur, Laserblutbestrahlung, Physiotherapie. Alle drei, vier Wochen geht’s zum Primarius. Öfter darf seine geheimnisvolle Therapie nicht angewendet werden. Ist ein bisschen ein Hokuspokus. Er nimmt den Kopf in die Hände und dann geschieht fast nichts. Keine Ahnung, was er da macht. Die Ohren tun mir auch weh, manchmal ganz stark. Er sagt, das Gewebe ist geschwollen. Die Akupunkturärztin ist ganz nett. Sie empfiehlt mir Qigong. Die Dame, die es macht, soll es ganz vorsichtig machen. Ich soll mich nicht daran stoßen, wenn sie gewisse Sachen sagt. Aha. Tatsächlich. Die gefällt mir gar nicht. Ich soll mir vorstellen, das Herz hat vorne eine Tür und hinten eine Tür und was meine Lieblingsfarbe ist. Oije das hab ich schon g’fressen. Aber Atemübungen machen wir. Das soll besonders gut sein, dann fließt das Qi nach unten. Wenn’s wahr ist. Das Atmen ist vielleicht ganz gut, aber ich werde total schwindlig davon. Da geh ich nicht mehr hin. Einmal war ich die letzte und die Akupunkturärztin hat mich nach Hause gebracht. Wohnt in meiner Nähe. Hat von ihrem Großvater erzählt. Der war Neurologe in Lainz, offenbar irgendeine Koryphäe. Schau ich im Internet nach. Hier ist er schon, nach dem Krieg Professor und beim BSA. Sehr interessant. Wäre ja interessant, was er während des Krieges war. Aha, Nazi und Mischling 2. Grades, sogar ein ziemlich scharfer, obwohl er sich nicht habilitieren konnte. Das sind die merkwürdigsten Geschichten. Vielleicht weiß sie das gar nicht. Normal arbeitende Menschen sind nicht so firm im Internet und in den Familien wird viel verschwiegen. Kann schon sein, dass sie es nicht weiß. Ob ich sie darauf ansprechen soll? Wär interessant, was sie sagt. Ich hab ihr eh mein erstes Buch geschenkt, aber sie scheint es nicht zu Ende gelesen zu haben. Sie hat erzählt, sie war einmal in einer Buchhandlung und wollte ein unterhaltsames Buch kaufen und hat irgend etwas völlig Langweiliges bekommen. Daraufhin hab ich ihr mein Buch geschenkt mit der Bemerkung, dass es lustig ist. Das sind halt extrem illiterate Leute. Bemerkenswert. Aber immerhin hat sie einmal gesagt, dass ich etwas über meine Krankheit schreiben werde. Das hat sie doch scharfsinnig erkannt. Den Anfang meines Buches hat sie gelesen. Vielleicht hat sie sich ja dann an den kommunistischen Eltern gestoßen. Jedenfalls hat sie dann nichts mehr gesagt. Und die Ärztin vom Marta-Maria Spital hat sich für die zwei Bücher, die ich ihr geschenkt habe, gar nicht bedankt. So sind die Menschen, aber wahrscheinlich ist sie überbelastet.
Es ist Abend. Ich lieg im Bett und dreh mich um. Plötzlich ist mir wieder totenschlecht. Ich lieg mit dem Kopf auf der Seite und sterbe. Es ist wieder wie das Ende. Wieder zitter ich so. Helmut anrufen. Gott sei dank ist er zu Hause. Ich sag ihm, dass ich sterbe. Er kommt gleich runter. Gott sei dank hat er Schlüssel. So komm ich in kein Spital. Ich kann den Kopf nicht heben. Er berührt mich im Nacken mit den Fingern. Da bin ich selber drauf gekommen. Es wird besser. Dreht den Kopf ein bisschen um. Eine Stunde behandelt er mich. Es wird besser. Gott sei dank. Die nächsten Tage ist mir schlecht. Hab eh einen Termin beim Primarius. Früher geht leider nicht. Nur wenn jemand absagt. Er sagt, der Wirbel war blockiert, hat sich nicht zurückgedreht. Was weiß ich, es ist schrecklich.
Ich muss immer noch mit dem Taxi fahren, zurück fahr ich jetzt immer ein Stückerl mit den Öffis. Mit dem Gehen geht’s schlecht. Das bisserl, das ich gehe, geh ich wie eine Schnecke. Und Stehen kann ich auch nicht. Das ist sicher nicht gesund, dass ich mich fast überhaupt nicht bewege. Wenn das so weiter geht, verlerne ich ja noch das Gehen. Aber schließlich gibt es ja auch Leute, die im Rollstuhl sitzen. So weit bin ich ja noch nicht. Vielleicht kann ich doch ein bisschen weniger mit dem Taxi fahren. Probieren. Tragen kann ich überhaupt nichts. Wenigstens kann ich schon selbst einkaufen gehen. Wenn auch nichts Schweres. Das bringt mir schon jemand. Jeder Besucher bringt mir immer etwas mit. So bin ich eh gut versorgt. Manchmal geht es mir ja halbwegs, dann wieder ziemlich schlecht. Es geht auf und ab. Aber nie wirklich gut, geschweige denn, dass es bleibt. Die TCM Ärztin mit dem Nazigroßvater ist jetzt eher pessimistisch. Ich hab den Eindruck, sie meint, dass die Behandlung nichts mehr bringt. Sag ich ihr das. Sie ist vorsichtig. Zumindest soll ich nur mehr einmal in der Woche kommen. Sie hat ja Recht. Jetzt hab ich das schon ein halbes Jahr und es ist nur wenig besser geworden. Ich kann zwar mit den Öffis fahren. Geh aber mit Stock und Sitzen kann ich höchstens ein, zwei Stunden. Wenn ich länger sitze, wird mir schlecht. Und der Schädelknochen tut mir immer noch weh. Ich geb aber die Hoffnung nicht auf. Der Helmut hat mir schon einmal Feldenkrais geraten. Noch so ein Hokuspokus. Ich mach eh genug. Hab schon gehört davon. Niemand von meinen Freunden ist davon begeistert. Jetzt stößt er wieder nach. Ich soll zum Feldenkrais gehen. No gut, probieren wir das auch noch. Sie schaut mich an und sagt, dass ich schief bin. Das weiß ich eh. Sie werden sehen, der Schwindel wird vergehen. Ich hab erst unlängst eine Frau mit Schwindel behandelt. Und jetzt ist sie nicht mehr schwindlig. Ich liege auf dem Bett und sie berührt mich ein bisserl. Nur ganz wenig. Wenn das was nützt. Sie ist aber sehr nett. Linzerin, hatte Kunst studiert und kennt alle möglichen Autoren. Aber zum Tratschen bin ich ja nicht hier. Am Rücken berührt sie mich ein bisschen. Das ist ganz angenehm. Dann soll ich mit je einem Polster unter den Achseln gehen. Meinetwegen, bitte. Sie behauptet, Feldenkrais ist wissenschaftlich nachgewiesen. Ich soll etwas darüber lesen. Ich hab aber keine Lust so was zu lesen. Hab genug interessante Lektüre. Gut, der Erfinder war Physiker, kommt aus einem russischen Stetl, nach Palästina ausgewandert. Fulminante Erfolge. No ja. Mach ma das halt auch. Das nächste Mal arbeiten wir mit den Augen. Schauen Sie nach links, schauen Sie nach rechts. Nach rechts geht nicht besonders. Sie greift mich wieder ein bisserl an. Am Rücken, an den Füßen, den Zehen. Das rechte Bein ist schuld. Hokuspokus. No gut. Soll sein. Alles ausprobieren. Nach dem dritten Mal geht es mir besser. Vielleicht nützt das ja doch was. Ich kann schon länger sitzen, auch weiter spazieren gehen. Es geht erheblich besser. Nach dem fünften Mal ist es mehr oder weniger weg. Ich brauch den Stock eigentlich nicht mehr. Drei Mal geh ich noch hin, zur Sicherheit. Ich bin gesund.

Mittwoch, 17. Juni 2009

Mein Urgroßvater aus dem galizischen Stetl

Moses Hersch ist ein gottesfürchtiger Mann, aber nicht fanatisch. Er spricht die Gebete und geht in die Synagoge oder ins Bethaus, hält den Sabbat und die Feiertage heilig, aber trägt unter der Woche keinen Kaftan und hat keine Pejes. An normalen Tagen trägt er einen kurzen Rock wie ein Deutsch, eine Weste mit Uhrkette, lange Hosen und Stiefel. Er ist kein Anhänger eines Wunderrabbis, aber er spendet für die Armen, für die Abbrändler, für die Waisen und für die Volksküche. Er liest den Magid, eine fortschrittliche Zeitung auf Hebräisch und er ist Mitglied des Vereins für Fortschritt und Bildung, aber auch des jüdischen Armen- und Bedürftigenversorgungsvereins. Er spottet über den Rebbe von Belz, den größten Wunderrabbi Galiziens, und höhnt, dass der Rebbe von Rzerzow größer ist als der Rebbe von Kiew. Er liest das jüdische Volksblatt von Borysław, eine Zeitung in Jiddisch, die jeden Freitag erscheint. Und am Sabbat liest er in der Thora und im Talmud. Er ist zwar nicht sehr gebildet, aber in einfacheren Teilen des Talmuds findet er sich zurecht. Es genügt an Gott zu glauben und Jude zu sein.
Moses Hersch wurde 1842 in Sosnica geboren. Die Familie war arm, bitter arm. Sein Vater war Tischler, die Mutter handelte mit Salz, Brot, Mehl, Zwiebeln, Heringen, Kerzen, Messern, Besen und Branntwein. Aber alle handeln, und das Geschäft brachte nur wenige Kreuzer am Tag. Vater, Mutter und vier Kinder wohnten in einer Hütte mit Lehmboden in einem einzigen Raum. Unter der Woche hatten sie kaum genug zu essen. Aber am Sabbat gab es Challah und gefillte Fisch und manchmal ein Huhn. Als Moses Hersch zwanzig war, heiratete er und zog nach Sambor zu den Eltern seiner Frau. Er hörte, daß man in Borysław reich werden kann und beschloß, dort sein Glück zu versuchen. Damals hatte es in dem kleinen Dorf mit den paar hundert Einwohnern noch fast keine Juden gegeben. Ein paar Jahre später wohnten schon siebentausend Juden in Borysław. Esther, Moses Herschs Frau, hatte eine kleine Mitgift in die Ehe gebracht. Davon kaufte er im Jahre 1866 von einem ruthenischen Bauern zusammen mit anderen um einen Spottpreis ein Stück Grund. So erwarb er einige Anteile an Gruben. Und kam zu Geld. Damals war es noch Erdöl, das aus den Gruben förmlich heraus brach. Die Bauern wußten nicht, wie wertvoll ihre Felder waren. Borysław – ein kleines, verschlafenes, ruthenisches Dorf am Fuße der Karpaten, im Osten Galiziens, des ärmsten Kronlands der Monarchie. Bis die Goldgräber kamen. Juden, die über Nacht reich wurden. Über dem ganzen Dorf hängt der Geruch von Erdöl. Die Straßen sind schlammig, ölgetränkt, ein gelber morastartiger Kot. Schmale Bretterstege dienen als Fußweg. Die Häuser sind aus Holz, nebeneinander oder auseinander gestreut auf einer kleinen Anhöhe. Auf den Straßen tummeln sich Wasserträger, Lepträger, jüdische und ruthenische Arbeiter in schmierigen, zerschlissenen Gewändern und mit Öl beschmierten Gesichtern, die Ruthenen meist barfuß, die Juden mit Pejes und im Kaftan, Händlerinnen, die Zwiebeln und Heringe verkaufen, Juden, die ihre Waren feilbieten, Schnitt- Ton- und Eßwaren, Kinder, die schwere Säcke schleppen, Luftmenschen, Menschen in Lumpen, die keine Arbeit haben und Betrunkene. Stellenweise versinkt man knietief im Kot. Irgendwo hockt jemand bei einem Zaun und verrichtet sein Geschäft, weil es keine Aborte gibt.
Mit Kornhaber, Mendelson und Gottesmann hat Moses Hersch eine Firma gegründet. Ein Erdwachs-Export-Geschäft. Sie liefern nach Lemberg, Prag und Wien. Aber auch an die Paraffinfabrik in Drohobycz. Moses Hersch ist ein verträglicher Mensch und kommt mit seinen Kompagnions gut aus. Er selbst ist umsichtig, niemals leichtsinnig und rechnet sorgfältig. Wer im Leben nicht rechnet, stirbt ohne Gnade. Die Erdölraffinerie in Hubicze ist nicht groß. Sie gehört Moses Hersch allein. Vierzig Arbeiter sind beschäftigt, Juden und Ruthenen, Männer und Frauen. Die Juden arbeiten sonntags, die Ruthenen samstags. Sie arbeiten 12 Stunden. Moses Hersch schlägt nie einen Arbeiter. Die Aufseher machen das manchmal. Zu Peissach spendet Moses Hersch jedem Arbeiter einen Gulden. Er geht jeden Tag in die Fabrik, obwohl er einen Direktor und einen Buchhalter hat. Er kontrolliert regelmäßig die Bestellungen und Quittungen. Das Petroleum wird nach Lemberg und Wien geliefert.
Anfangs war er nur unter der Woche in Borysław und übernachtete in der Schenke, Donnerstag abend oder Freitag vormittag fuhr er nach Sambor, um mit der Familie den Sabbat zu feiern. Esther gebar ein Mädchen, das bei der Geburt starb. Ein Jahr darauf einen Sohn, Sische. Bald war Moses Hersch wohlhabend und kaufte ein Haus in Borysław. Ein Haus mit fünf Zimmern und einer Veranda auf der Ulica Panska. Ein Zimmer dient als Geschäft. Drei Jahre später kam Osias zur Welt, zwei Jahre später Jakob, 1875 Awrum und ein Jahr danach Pinkas. Moses Hersch ist klein, hat tief liegende Augen und einen üppigen Bart mit weißen Fäden darin. Und einen würdevoll energischen Gesichtsausdruck. Esther ist groß, ein Stück größer als ihr Mann, stark und hat ein trauriges Gesicht. Sie hat einen Scheitl und trägt ein großes kariertes Tuch, wenn sie ausgeht. Am Sabbat liest sie in ihrer jiddischen Bibel und dem Gebetbuch, das ein silbernes Schloß hat. Esther arbeitet im Geschäft. Dreimal in der Woche kommt ein Student aus Drohobycz, um Moses Hersch und Esther Deutschunterricht zu geben. Ein Gymnasiast der siebenten Klasse. Auch die Kinder bekommen Deutschunterricht. Moses Hersch kann zwar noch nicht perfekt Deutsch, hat aber eine Schillerausgabe gekauft, in der er abends im Lehnstuhl sitzend mit einem Glas Bier, Kichererbsen und einer Zigarre liest.
Moses Hersch hat mit dem Erdöl und Erdwachs ein kleines Vermögen erworben. Er kauft eine Bierbrauerei in Drohobycz, wo er sich später zur Ruhe setzen will. Es ist nur eineinhalb Meilen von Borysław entfernt und es stinkt nicht nach Erdöl. Er übernimmt vierzehn Arbeiter, ruthenische Bauernburschen, drei gelernte Arbeiter und den Braumeister, der für den Ablauf der Arbeit verantwortlich ist, Gerste, Hopfen und Hefe einkauft, sich um die Maschinen kümmert und ein Auge auf die Ochsen, Pferde und Wagen hat. Es wird sechzehn Stunden gearbeitet, um vier Uhr früh wird begonnen. Nach fünf Stunden gibt es eine Pause. Jeden Tag gibt es eineinhalb Liter Freibier und eine Jause als Teil des Lohns. Moses Hersch fährt fast nie nach Drohobycz in die Brauerei. Er versteht auch gar nichts von der Bierbrauerei. Chaim Alter, der junge Gottesmann, wohnt schon in Drohobycz bei seinem Schwiegervater. Er schaut manchmal in die Brauerei, ob alles in Ordnung ist.
Moses Hersch und Esther haben sich wie alle Juden erst knapp vor der Hochzeit kennen gelernt. Sie vertragen sich recht und schlecht. Öfter einmal gibt es Streit. Meistens setzt sich Moses Hersch durch. Aber er ist zufrieden, weil Esther fruchtbar ist und lauter Söhne gebiert. Moses Hersch ist fortschrittlich. Und Esther geht das manchmal zu weit. Dann gibt es Streit. Esther hat durchgesetzt, dass die Kinder in den Cheder gehen. Moses Hersch ist kein Freund des Cheder. Das ist etwas für die Orthodoxen und die Chassidim. Sie lernen nur Chumesch und Mischnah und Gemara. Und sie lernen es auf törichte Weise mit Schlägen und Drill. Damit kann man nichts werden im Leben. Die Kinder sollen etwas Ordentliches lernen und studieren. Sie sollen Ärzte werden. Oder Advokaten. Sie sollen Polnisch lesen und schreiben lernen, weil es in Borysław nur eine polnische Volksschule gibt. Aber besser Polnisch als den ganzen Tag über dem Talmud zu sitzen. Und sie sollen Rechnen und Deutsch lernen. Und wenn sie nicht Ärzte werden, dann sollen sie Kaufleute werden. Aber sie sollen studieren. Als Arzt oder Advokat kann man als Jude überall arbeiten. Ganz aber dürfen sie die heiligen Bücher nicht vergessen. Jeden Tag kommt ein privater Religionslehrer eine Stunde. Weil es in der polnischen Volksschule keinen jüdischen Religionsunterricht gibt. Er ist kein Chassid, aber orthodox, und duldet die Fortschrittlichen. Nur nicht mehr in den fanatisierten Cheder. Die Kinder tragen auch keine Jarmulke mehr. Auch gehen sie samstags in die Schule, nur schreiben sie nicht. Segenreich, Eisenstein und Lauterbach und all die anderen Orthodoxen und Chassidim gehen Moses Hersch aus dem Weg. Ihre Söhne gehen nicht in die polnische Schule und halten den Sabbat heilig. Moses Hersch ist ein Apikojress, ein Ketzer. In Borysław gibt es keinen Tempel für die anderen, die keinen Kaftan mehr tragen und keine Pejes und die samstags ihre Kinder in die Schule schicken. Sie gehen ins Bethaus vom Fortschrittsverein. Der Fortschrittsverein will einen Tempel erbauen wie in Lemberg. Da soll es eine Orgel geben und einen Rabbiner, der auf Deutsch predigt. Moses Hersch prüft auch seine Kinder am Sabbat nicht über das, was sie während der Woche im Cheder gelernt haben.
Sische, der älteste Sohn, studiert in Wien Medizin, nennt sich Sigmund und wird Chirurg. Osias macht in Wien einen En Gros Handel auf, kauft ein Zinshaus und nennt sich Oskar. Jakob wird ein berühmter pathologischer Anatom in Wien. Awrum, später Adolf, bleibt in Drohobycz und wird Grubenverwalter. Pinkas, seit der Matura Peter, wird Advokat und lässt sich in Zabłotow nieder. Moses Hersch ist sehr stolz auf seine Söhne, ganz besonders aber auf Jakob.
September 1914. Die Russen kommen. Die Grenze haben sie schon überschritten. Bald sind sie in Lemberg. Und dann sind sie auch bald in Drohobycz. Es wird Pogrome geben. Man hört alles Mögliche. Plünderungen, Raub, Mord, Brandlegungen, Vergewaltigungen, Verschleppung von Weibern, Kindern und Greisen und Verschickung nach Russland. Am schlimmsten ergeht es den Juden. Die jüdischen Häuser werden in Brand gesteckt.
Moses Hersch und Esther weilen im Herbst 1914 in Karlsbad. Sie fahren nicht nach Drohobycz zurück, sondern nach Wien und beziehen eine kleine Wohnung in Oskars Haus. 1917 stirbt Esther, 1922 Moses Hersch. Die Million Kronen, die er hinterlassen hat, ist nichts mehr wert.





Mea Shearim

Welche stat haben die jiden gebaut in zeit wen sei gewen knecht in mizraim? Wos is di namen fun di frau von josef? Wos is di namen fun der zweite son fun jehuda ben jakob? Oif wem hat jakob aroif gelegt sein linke hant wen er hat gebentscht di kinder fun josef?
Ein Kinderspiel in Jiddisch. Mentschen un plezer in tora. 288 Fragen. Für Kinder ab 9 Jahre. Für die Kinder in Mea Shearim. Für die Kinder, die den ganzen Tag nichts anderes tun als chumesch studieren. Die Kinder, die im Sommer bei 33 Grad dicke Wollstrümpfe tragen und langärmlige Leibern und Jäckchen darüber. Die größeren Mädchen in dunkelblauen Faltenröcken, hellblauen Blusen und dunkelblauen Wolljackerln. Wie Klosterschülerinnen in den 50er Jahren. Die Buben in dunkelgrauen langen Hosen, manchmal dreiviertellang, aber mit Kniestrümpfen und in dunkel karierten Hemden. Die kleineren Buben haben ein Kindergartentäschchen umgehängt, nur die Buben. Wenn sie in die Talmud-Thora-Schule gehen. Die kleinen Mädchen dürfen nicht lernen. Mea Shearim, hundert Tore. Und Isaak säte in seinem Lande und erntete in jenem Jahre hundertfach, denn der Herr segnete ihn. Mea Shearim, wo man lebt wie im Stettl, wo die Zeit 200 Jahre stehen geblieben ist. Wo die zweistöckigen Häuser verfallen sind. Häuser mit winzigen Wohnungen übereinander. Die oberen Wohnungen durch Stiegen und eine Galerie von der Straße aus erreichbar. Die Drähte hängen außen an der Fassade und quer über die Straße. Ein abgeschlossenes Areal, 1880 erbaut, ein rechteckiger Block mit vier Toren, nach und nach drum herum gebaut. Auf jedem Tor ein Schild in Russisch, Französisch, Englisch und Hebräisch, dass man anständig gekleidet sein muss und die religiösen Gefühle nicht verletzen darf. Fotografieren ist nicht verboten, aber die Mädchen laufen bei einem Versuch davon und die größeren ziehen ihre kleinen Geschwister, die oft zu weinen beginnen, schnell weg. Buben sind argloser, achten nicht so darauf, wenn sie fotografiert werden. Zwischen den Wohnhäusern gibt es Synagogen, Jeschiwes, Talmud-Thora-Schulen. In den Synagogen ist die Frauenabteilung durch ein dichtes Holzgitter abgetrennt, sodass man nicht zu den Männern hinunter sehen kann. Im Block ein Obst- und Gemüseladen, ein Uhrmacher, eine Auslage mit billigem Kopfschmuck, ein kleines Geschäft mit Töpfen, Messern, Scheren, Schuhpasta, Schuhbändern und allerlei Kleinkram und ein Fischgeschäft, nicht sehr sauber, nicht modern, in dem Männer herumstehen und deigezen. Hier fahren keine Autos, nur auf den Straßen rund herum, vor allem auf der Hauptstraße, der Mea Shearim – Straße und Malchei Yisrael – Straße. Hier wimmelt es von Menschen. Männer in schwarzen, braunen, gestreiften, weißen Kaftan mit Kippa und Hut, manche in Knickerbockern und Stutzen, mit langem Bart und struppigen oder schön eingedrehten Pejes. Manche stehen herum und deigezen miteinander, manchmal auf Jiddisch, junge Männer mit einem heiligen Buch in der Hand eilen in die Jeschiwe. Frauen mit Perücke, in billigen, altmodischen Kostümen mit einer Schar von Kindern um sich herum. Hier herrscht ein Gedränge. Besonders wenn sie alle zugleich über die Kreuzung wollen, über die man diagonal gehen kann. Auf der großen Hauptstraße gibt es ein kleines Geschäfte neben dem anderen. Da gibt es jüdische Devotionalien, Menorot, Chanukiot, Dreidels, Gefäße zum Waschen mit zwei Henkeln aus Silber, aus Porzellan, aus Glas einfärbig oder bunt in allen Preislagen, Tücher, um die Challah zuzudecken, auf denen „schabbat wejom tov“ steht, Kerzen für den Schabbat, geflochtene Kerzen für die Hawdalah, den Schabbatausgang, Kippas, T-Shirts mit Zitzen, Ölbilder von berühmten Rabbinern. Geschäfte mit alten und neuen heiligen Büchern, ein ganz modernes Hutgeschäft, in dem es Hüte von 50 Euro aufwärts bis einige hundert gibt, ein Standel mit Hauben in allen Variationen: braune, schwarze, dunkelrote Netze, Hüte mit Mascherln, rosa, hellblaue, beige Tücher mit Verzierungen. Ein kleiner Supermarkt, in dem es eine Kassa für Frauen und eine für Männer gibt, was extra angeschrieben ist. Dazwischen winzige Imbissstuben, wo es Fisch, Huhn, Zimes, Mazesknödel, Tscholent, gefillte Fisch, Kugel süß, salzig und scharf gibt. Aber auch Imbissstuben mit Falafel und Pizza. Keine großartigen Speisen, alles ziemlich billig. Die Leute im Stettl sind arm. Die Männer lernen und die Frauen verdienen das Geld und alle haben sechs, sieben, acht, neun, zehn Kinder. Und die Bäckereien, wo es Rogelach gibt, kleines Gebäck mit Topfen, Schokolade oder Mohn, wo man sich alles mit den Händen nimmt und wo alles um die Hälfte billiger ist als in anderen Stadtteilen. Die Bäckerei am Ende der Wohnstraße, die in die Nathan Strauss Straße mündet, gleich bei der Kreuzung ist am Freitag Vormittag voll mit Männern, die Challah kaufen, die sie lange aussuchen, in die Hand nehmen und wieder zurücklegen, bis sie die richtigen gefunden haben. In Mea Shearim gibt es kein Café. Man darf sich nicht vergnügen, die Männer sollen nur lernen und die Frauen müssen Geld verdienen und sich um die Kinder kümmern. Aber jede Menge Kleidergeschäfte gibt es. Dunkle Kostüme, Röcke bis zu den Waden, Blusen mit Rüschen, Kleider aus schwarzem Samt mit silbernen Blümchen drauf. Abstoßend hässlich. Manche junge Mädchen tragen lange, weite Röcke, aber dunkel, manchmal sogar aus Jeansstoff, und normale T-Shirts, mehrere übereinander und statt einer Haube ein Tuch in die Haare verflochten. An den Hauswänden auf der Mea Shearim-Straße gibt es Plakate mit den jüngsten Neuigkeiten, eine Art Stettlzeitung, wo welches Geschäft aufgemacht hat. Oder: die Rabbiner laden ein, alle zusammen um Regen zu beten. Oder: Es wird gebeten, dass Burschen und Mädchen nicht zusammen im Bezirk spazieren gehen. Bettler erzählen auf Jiddisch, dass sie sieben Kinder haben und nichts zu essen und halten einen so lange fest, bis man 5 Schekel gegeben hat. Andere sammeln für arme Kinder, für eine Talmud-Thora-Schule, für eine Jeschiwe. Am Schabbat ist die Hauptstraße der Corso, das Viertel ist abgesperrt, Autos dürfen nicht herein, das ganze Stettl ist auf den Beinen. Alle sind herausgeputzt, manche Männer mit Streimel und weißen Stutzen. Auch die Kinder spazieren auf und ab, die Kleinen mit den Eltern oder größeren Geschwistern, die größeren allein, ganz brav ohne Geschrei, ohne Rauferei, ohne Gedränge. Und wenn die ersten drei Sterne am Himmel zu sehen sind, rufen junge Männer im Kaftan: Schabbes, schabbes, schabbes.

Montag, 15. Juni 2009

Mein Amerika

Mein Amerika

Warum sind wir hierher gefahren? Wir sind ja in Russland. Alles auf Russisch. Moroschenoje Eis, knigi Bücher, rasprodascha Ausverkauf, schuby Wintermäntel – und das bei der Hitze, Café Arbat, Restaurant Odessa. Russische Tücher, Frauen, die auf der Straße Pirogen verkaufen. Man hört nur Russisch. Nur dass wir in Brighton Beach sind, am untersten Ende von Brooklyn, nicht weit von Coney Island. Es ist ja ganz angenehm, dass alle Leute Russisch sprechen, mein Englisch ist eh hundsmiserabel und Russisch kann ich ganz gut. Aber eigentlich wollte ich ja nach Amerika. Meine russische Freundin Zina aus Lemberg hat alles organisiert. Genau genommen ihre ukrainische Freundin Ira aus Rochester, die mit uns einige Tage in New York verbringen will und zuerst mich vom Flughafen Newark und dann Zina vom J. F. Kennedy Flughafen mit einem ukrainischen Taxifahrer abgeholt hat. Das war eine Mordsaufregung. Zina wollte, dass ich mit ihr von Frankfurt fliege, aber das hätte doppelt so viel gekostet. Sie war schon Wochen vorher aufgeregt. So sehr, bis ich mich schließlich auch aufgeregt habe. Und dann kam noch Ira dazu, die mir aufgeregte Emails geschrieben hat und am Telefon gesagt hat, dass sie sich große Sorgen macht, wie wir uns alle drei in New York treffen werden. Fast hätte es eh nicht geklappt. In Brüssel war ich sieben Minuten vor Abflug nach New York am Gate. Da hab ich Blut geschwitzt. Zu wenig Zeit zum Umsteigen. Noch einmal durch alle Kontrollen. Irgendetwas hat bei mir rot aufgeleuchtet. Mussten die Füße durchleuchtet werden. Die Dame hatte überhaupt kein Verständnis für mich. Ich hätte halt früher kommen sollen. Es leuchtet rot, sie muss die Füße kontrollieren. Und von der letzten Kontrolle war es dann noch so weit bis zum Gate. Ich hatte vor Aufregung schon einen völlig ausgetrockneten Mund. Aber Glück gehabt. Der Taxifahrer fährt uns nach Brighton in ein russisches Hotel. Der Besitzer, ein Russe, natürlich ein russischer Jude, mit einem riesigen Bauch, denkt gar nicht daran uns mit dem Gepäck zu helfen. Er kann nichts tragen, weil er gerade eine schwere Operation hatte. Und der Taxifahrer kann auch nichts tragen, weil er kürzlich eine Bypass Operation hatte. Müssen wir unsere Koffer selbst die steile Treppe hinauf schleppen. Ein Gang mit vier kleinen Zimmern, zwei Toiletten und zwei Duschen am Gang. 70 $. Für New York ist das billig. Zina und Ira sind zusammen in einem Zimmer. Die Russen können ja auf winzigstem Raum zusammen wohnen. Das sind sie aus sowjetischen Zeiten gewohnt. Ich hab wenigstens allein mein Zimmer. Aber es gibt keinen Internetanschluss. Ist auch nicht zu erwarten in so einem Tschocherlhotel. Wir müssen gleich wieder los. Der Taxifahrer wartet auf uns. Ira will, dass er uns noch ins Reisebüro bringt. Sie hat eine Exkursion nach Boston und Washington telefonisch bestellt. Die müssen wir jetzt unbedingt sofort bezahlen. Das Reisebüro ist natürlich auch russisch. Und die Exkursionen werden natürlich auf Russisch sein. Hätte ich gar nicht so viel Englisch lernen müssen. Der Taxifahrer ist gar kein richtiger Taxifahrer, er ist ein Bekannter von Ira und war in Lemberg Zahnarzt. Er lebt aber hier vom Taxifahren, fährt aber nur mit seinem eigenen Wagen. Seine Kunden sind russische Juden. Ob er Antisemit ist? Er ist Ukrainer und die sind oft Antisemiten. Er hat auch so einen großen Bauch, eine Glatze geschnitten und vorne ganz kaputte Zähne. Nur mehr einen Schneidezahn und der ist ein schwarzer Stummel. Er lädt uns noch auf einen Tee zu sich nach Hause ein. Er wohnt ganz in der Nähe vom Hotel. Eine kleine Zweizimmerwohnung. Schaut auch irgendwie sowjetisch aus, sogar das Haus erinnert mich ein bisserl an Russland. Es wohnen auch nur Russen in dem Haus. An der Tür des Nachbars ist eine Mesusa angebracht. Zorjan, der Taxifahrer, sagt, es gibt im Haus viele Leute, die eine Mesusa angebracht haben. Das kenn ich von Israel. Manche sowjetische Juden sind plötzlich fromm geworden. Die Frau arbeitet als Putzfrau. Sie kann kein Wort Englisch. Braucht sie auch nicht, sie kennt nur Leute, die Russisch oder Ukrainisch sprechen. Viel Geld haben sie nicht. Aber sie sind zufrieden. Nach Lemberg wollen sie nicht mehr zurück. Dann fährt uns Zorjan in ein Geschäft, wo man billig einkaufen kann und die Verkäufer Russisch sprechen und gleich daneben zeigt er uns ein russisches Restaurant, wo man billig essen kann. Im Geschäft gibt es nur grausliche Sachen, Brot, dem man schon von weitem ansieht, dass es ungenießbar ist. Nichts fürs Frühstück, da kann man nichts machen. Kauf ich ein abgepacktes Biskuit. Schaut auch nicht toll aus. Zina muss gleich billige T-Shirts anschauen. Sie wird noch sechs Wochen Gelegenheit haben, Fetzen anzuschauen. Aber gleich angekommen, muss sie im größten Ramsch stieren. Das ist immer noch das sowjetische Defizit. Wir gehen ins Restaurant. Die Speisekarte ist auf Russisch und die Speisen auch. Also gibt es am ersten Abend in Amerika Boschtsch und Seljedki. Bin gespannt wie das weiter geht. Der Borschtsch und die Seljedki sind aber tatsächlich ausgezeichnet.
In der Früh steigt einem schon der Geruch von Sosiski, den russischen Knackwürsten, in die Nase. In dem Hotel wohnen natürlich nur Russen und die kochen am Herd am Gang ihre russischen Würste. Das ist so wie die Italiener, die überall in der Welt ihre Spagetti haben müssen. Gemeinsames Frühstück in Zinas und Iras Zimmer, aufklappbarer Tisch und Klappsessel, weil das Zimmer so winzig ist. Eine moderne Komunalka. Wie die zusammen in dem halben Doppelbett schlafen? Jetzt will ich endlich New York sehen. Aber es sind noch Besorgungen in Brighton zu machen. Handykarte für Zina, Handy für mich. Zina besteht darauf, dass ich ein Handy habe. Besorgungen kann man nur in Brigthon machen, weil man hier Russisch spricht. Ira lebt schon 17 Jahre in Amerika, kann aber offenbar schlechter Englisch als ich. Brighton Beach ist nicht gerade ein elegantes Viertel. Kleine Häuschen, ein bisschen schmutzig. Ein Mutterl sitzt auf einem Stockerl und verkauft selbst gestrickte Socken. Ein Mann hat ein paar Mützen in der Hand, die er verkauft. Das kenn ich doch aus Russland. Jetzt seh ich endlich die Hochbahn, die mitten durch die Brighton Avenue führt. Das ist ungeheuerlich. Das ist eigentlich die U-Bahn, die als Hochbahn weiter geht. Mitten durch die Straße knapp an den Häusern vorbei. Sie ist schon hundert Jahre alt. Ich hatte schon ein altes Foto gesehen. Überall werden russische Zeitungen verkauft. Vor einem Geschäft hängt ein Zettel auf Russisch: Wir suchen eine Verkäuferin, Englischkenntnisse nicht erforderlich. Das Meer ist gleich hier. Schaut, man kann es sehen. Da gehen wir aber jetzt hoffentlich nicht hin. Ich will jetzt endlich nach Manhattan. Ira hat für jede von uns einen Plan der Subway besorgt. Die Frau beim Fahrkartensschalter kann nicht Russisch. Die U-Bahn ist exterritorial. Schließlich schaffen wir es, eine Siebentagekarte zu kaufen. Wohin fahren wir? Zum Empire State Building. Nein, da fahren wir jetzt nicht hin. Dann eben nicht. Zum Chrysler Building. Nein, da fahren wir jetzt auch nicht hin. Zur 5th Avenue. Wir fahren zum Times Square, sagt Ira, und von dort fahren wir mit einem Sightseeing Bus. Das ist ein Doppeldeckerbus. Oi je, das fängt ja gut an. Nach einer endlosen Fahrt mit der U-Bahn sind wir endlich am Times Square. Ira stürzt sich gleich auf einen der Männer, die Zettel mit Informationen über die Sightseeing Busse verteilen. Jetzt will ich auf keinen Fall mit so einem Bus fahren und Zina auch nicht. Ira nervt. Wir marschieren los. Schauen, schauen, schauen. Schließlich bin ich das erste Mal in New York. Broadway. Die Ira hat uns natürlich mitten ins Touristenzentrum führen müssen. Macht nichts. Es ist trotzdem toll. Die beiden müssen in jeden Souvenirladen gehen. Meinetwegen. Aber ich will endlich die Wolkenkratzer sehen. Wenn das so weiter geht, kann ich nicht alles sehen, was ich will. In New York gibt es so viel zu sehen. Zina will einen Computer kaufen. Aber doch nicht am ersten Tag. Sie will sie trotzdem jetzt anschauen. Und eine Filmkamera, so wie ich sie habe. Wozu sie die haben will. Sie kennt sich mit dem Computer gar nicht aus. Sie kann kaum Emails schreiben. Das hat gar keinen Sinn. Das Rockefeller Center muss in der Nähe sein. Ich kenn mich schon in New York aus, ich hab mich sehr gut vorbereitet. Wir müssen noch zur Pennsylvania Station, Fahrkarten nach Rochester kaufen. Aber doch nicht heute. Ira nervt. Die können wir sicher auch am Grand Central Bahnhof kaufen. Den möchte ich mir sowieso anschauen. Jetzt übernehme ich die Führung, rechts rein zum Rockefeller Center. Meine New York erfahrene Freundin Susi hat schon gesagt, die Touristen erkennt man daran, dass sie immer hinauf schauen. Ich muss auch immer hinaufschauen. Die Damen müssen auf die Aussichtsplattform. Ich hab eine Höhenphobie und meide Aussichtstürme. Derweil flaniere ich herum und schau. Ich kann mich gar nicht satt sehen. Ich möchte mich gerne wo hinsetzen und hinauf schauen. Nur Plätze in der Sonne. Für Anfang September ist es noch ganz schön heiß. Wenn Ira unbedingt noch Fahrkarten kaufen will, dann können wir ja zum Grand Center Bahnhof fahren. Der muss sehr schön sein. Wie schön muss erst die Pennsylvania Station gewesen sein. Mitte der 60er Jahre haben ihn Idioten abgerissen. Es gibt hier tatsächlich keine Fahrkarten nach Rochester. Da hat die verrückte Ira recht gehabt. Todmüde fahren wir nach Hause. Eingekauft wird in Brighton. Wir könnten ja in das Restaurant St. Petersburg gehen. Schaut sehr sowjetisch aus. Lieber einkaufen im russischen Geschäft. Hier gibt es alles wie in Russland. Russische Wurst, russischen Käse, echten Kefir, Kwas, Sefir, russisches Konfekt. Aber Topfen aus Israel. Die Damen wollen Fisch kaufen. Geräucherten Thunfisch und Lachs. Natürlich auf russische Art geräuchert. Die beiden tun so, als ob das ganz normal ist, dass man in New York russische Lebensmittel kauft. Damit nicht alles Russisch ist, kaufe ich einen kalifornischen Wein. Da liegt einer am Gehsteig. Das kenn ich auch aus Russland. In Russland saufen bekanntlich auch die Juden. Also auch in Brighton Beach. Ich muss ein Email schicken, dass ich gut angekommen bin. Mit meinem neuen Minicomputer komm ich im Hotel nicht ins Netz. Kein freier Zugang. Muss ich ins Internetcafé. Vielleicht komm ich ja in einem Café ins Netz. Es ist schon ½ 10, aber ich geh trotzdem noch weg. So gefährlich wird es schon nicht sein. Auf der Brighton Avenue gibt es ein Starbuck. Das gibt es hierzulande an jeder Ecke. Sogar in Wien nisten sie sich schon ein. Aber ins Internet komm ich hier auch nicht mit meinem Laptop. Und an der Theke spricht auch niemand Russisch. Das einzige Etablissement hier, in dem nicht Russisch gesprochen wird. Sogar in der Bank sprechen sie Russisch. Aber Starbuck ist eben amerikanisch. Also ins Internetcafé, wo man natürlich auch Russisch spricht. Es ist schon ½ 11. Sehr gemütlich ist es auf der Straße nicht. Sehr schmutzig. Der Müll türmt sich am Straßenrand. Ich melde mich bei den Damen zurück, damit sie sich nicht sorgen. Sie haben inzwischen den Wein ausgetrunken. Ich bin todmüde und schlaf sofort ein.